sabbatical schweiz 660DAS JÜDISCHE LOGBUCH  vom 3. April 2020

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Dieser Frühling wird schöner. Die Natur spriesst farbiger, die Vögel singen lauter und die Menschen bleiben ruhiger – viele sind trauriger, einsamer, alleine, getrennt. Andere stehen vor dem wirtschaftlichen Ruin, vor Ohnmacht, Ungewissheit, Angst, und Verlorenheit in einer Phase der Umwälzung. Es sind die Tage des weltweiten Lockdowns. Alles runtergefahren.

Die Menschen laufen alleine und schweigend durch die Strassen. Sie nehmen sich aus der Gesellschaft. Auszeiten und teure Therapien sind längst Teil der modernen Gesellschaft geworden. Freiwillige Pausen mit Yogasessions, Selbst­findungs­wochen, Ruheaufenthalten im Kloster, Entschlackungskuren und Schweigewochen. Erzwungene Pausen mit Burnoutkuren, präventiven Auszeitwochen oder im klassischen Sabbatical alle sieben Jahre. Die moderne Gesellschaft hat sich selbst erschöpft.

Für alte Kulturen von Buddhismus, Hinduismus, Christentum und viele andere ist die Auszeit immer schon integraler Bestandteil, tragende Idee des Lebens gewesen. Wenn am Freitag der Schabbat, in der kommenden Woche mit dem zweiten Tag Pessach das Zählen des Omer während sieben mal sieben Tagen bis Schawuot beginnen, gefolgt von der dreiwöchigen Trauerzeit im Sommer zwischen den Fasttagen Schiwa Assar Betamus und Tischa Beaw und dann ab September 2021 das Schmittajahr, in ein paar Jahren das Joweljahr folgt, in dem gemäss jüdischem Gesetz sämtliche Schulden erlassen, Bodenbesitz aufgelöst und leibeigene Sklaven befreit werden, dann ist dies das Rückgrat der Existenz und die verkannte Idee des Lebens.

Der Mensch ist Gast auf Zeit. Dieser Lockdown, dieser Stillstand, diese Pause ist die Rückbesinnung auf den Siebenerzyklus der Natur und des Menschen am Vorabend zum Fest der Reduktion. Pessach ist in den letzten Jahren zum exzessiven, egozentrischen, luxuriösen Saus und Braus geworden – und wäre doch eigentlich die Erinnerung an Flucht, Verzicht, Bescheidenheit. Viele Familien werden erstmals in diesem Jahr Pessach zu Hause feiern und nicht den pervertierten Exodus in den Luxus betreiben. Dieses Sabbatical startet vieles neu, und vielleicht werden die Dinge wieder sinnvoller. Nächstes Jahr also nicht in Jerusalem, sondern einfach zu Hause, bei sich, zurück zu Ursprung und Sinn.

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© femelle.ch

Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. April 2020