Kuhhandel um Regierungsbildung in Israel
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Benny Gantz hat von Präsident Reuven Rivlin das Mandat erhalten, eine Regierung zu bilden, noch hat Gantz es nicht geschafft, eine Koalition zu bilden, am Sonntag bat er Rivlin am Telefon um mehr Zeit.
Früher oder später wird Israel seine neue Regierung bekommen, wenn auch nicht mehr vor Pessach (8. April), wahrscheinlich aber ohne die Notwendigkeit eines weiteren, vierten Wahlgangs. Sollte Staatspräsident Rivlin allerdings dem Ansinnen von Blauweiß-Chef Benny Gantz stattgeben und ihm «mehr Zeit für die Koalitionsbildung» zugestehen, wie dieser es im Telefongespräch formuliert hatte, stehen wieder alle Türen offen, auch ein weiterer Gang an die Wahlurnen. Das Mandat des Blauweiß-Bosses zur Regierungsbildung endet offiziell in der Nacht des 13. Aprils, doch Rivlin könnte, wenn es ihm gerechtfertigt erscheint, noch eine allerletzte Zugabe von zwei Wochen machen. Der Präsident reagierte vorsichtig auf die Bitte von Netanyahus möglichem Koalitionspartner: Er wolle das Ersuchen des Blauweiß-Chefs zeitlich näher zum Schlusstermin in Betracht ziehen und die dann vorherrschenden Umstände berücksichtigen.
Machen wir uns aber nichts vor: Auch wenn derzeit an allen Ecken und Enden von einer Einheitsregierung die Rede ist, zu der der jetzige Premier Netanyahu und Blauweiß-Chef Benny Gantz sich durchringen würden, kann in diesem Gebilde recht wenig von wirklicher Einheit gesprochen werden. Viel eher dürfte zutreffen, dass die beiden Haupt-Streithähne sich in dieses ungeliebte parlamentarische «Gefängnis» oder besser in dieses «Labyrinth mit unbekannten Ausgängen» haben zwingen lassen, weil Netanyahu es seinem Widersacher so schwierig wie möglich machen will, ihn vor dem Hintergrund seiner eigenen gerichtlichen Probleme vorzeitig abzuservieren. Gantz wiederum, der ja im israelischen Polit-Dickicht ein Novize mit entsprechend geringer praktischer Erfahrung ist, will sicher nicht auf die Kadenz als Premier verzichten, auch wenn diese Kadenz mit einer Dauer von maximal anderthalb Jahren kaum die Hälfte der wirklichen Amtszeit darstellt.
Nur ein Zweckbündnis
In der vielleicht entstehenden israelischen Regierung handelt es weniger um eine Liebesehe als um ein reines Zweckbündnis. So schreibt etwa Yossi Verter in der Tageszeitung «Haaretz»: «Würde jemand (den bisherigen Tourismusminister) Yariv Levin – er leitet Netanyahus Verhandlungen mit Gantz – nach seinen Präferenzen befragen: Was würde er vorziehen: Justizminister zu sein, aber ohne die israelische Souveränität in die Westbank auszudehnen, oder dann Badminton-Minister, aber mit der Annexion? So würde er ohne Zögern antworten und sich für die zweite Version entscheiden.»
Das ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür, dass manch ein potenzieller Minister im Stadium der pränatalen Regierung einen Purzelbaum rückwärts schlagen muss, und erst noch mit geschlossenen Augen und ebensolchen Ohren, um nicht zu viel Politisches zu sehen oder zu hören, was ihm das Blut in den Adern gefrieren liesse. Gesetzt den Fall, der betreffende Minister würde die Übung überstehen, wüsste er erst, dass er Mitglied der «unmöglichen» Regierung sein könnte, aber sein konkretes künftiges Ressort würde noch von Netanyahus Entscheid und dem devoten Zunicken durch Gantz abhängen. Bei Yariv Levin etwa ist der ideologische Eifer für Gross-Israel so viel stärker als sein Wunsch, Justizminister zu sein und im Obersten Gerichtshof zu thronen. Doch keine Angst, sollte er zum Knessetsprecher ernannt werden, würde er gewährleisten, die Knesset zu einer Festung zu machen, deren Artillerie auf die Halle der Justiz auf dem nächsten Hügel zielen würde. Wie auch immer man es dreht: Ein Mann wie Levin würde lieber künftig Kaugummi in einem Kiosk verkaufen als seine Seele einem faulen ideologischen Kompromiss zu opfern.
Saure Trauben
Die zweite Falle in diesen letzten Tagen des Koalitionskuhhandels: Soll dem Wunsch von Blauweiß entsprochen werden, würde die Regierung in ihren ersten sechs Monaten als «Notstandsregierung» durch die Parteienlandschaft kutschieren und sich wenig bis überhaupt nicht um Politisch-Diplomatisches kümmern, sondern vordringlich nur um die Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Korrekt, beide Themenkreise sollten oder müssten von jeder Regierung prioritär behandelt werden, aber nicht exklusiv. Logischerweise bestehen in diesen zwei Bereichen kaum Meinungsverschiedenheiten, was aber kaum gelten kann für die Restbereiche, die normalerweise für jede Regierung täglichen Gesprächs- und Handelsstoff liefern. Wollte man diese Bereiche gänzlich hinter die Dringlichkeitsbereiche der Post-Corona-Periode verdrängen, käme eine Zeit, in der jede demokratisch gesinnte Landesführung früher oder später den Bettel hinwerfen müsste. Verter spricht hier von einer «Todesfalle für Netanyahu, Levin und ihresgleichen» und gibt eine von verschiedenen möglichen Erklärungen: «Sollte Israel verkünden, dass es seine Souveränität auf Teile der Westbank ausdehnen will, würde Joe Biden (vorausgesetzt, er wird der demokratische Präsidentschaftskandidat), eine unüberhörbare Botschaft nach Jerusalem senden: ‹Tretet etwas ruhiger, meine Freunde.› Abgesehen davon aber, dass Leute wie Gantz (immerhin der präsumtive Premier der zweiten Hälfte), Gabi Ashkenasy und die meisten Blauweiß-Mitglieder den Annexionsgedanken ablehnen, muss man im Ausland schon bis Donald Trump suchen, bis man eine Person findet, die Israels Annexionskonzept unterstützt, in der Hoffnung, dass es sich letztlich zum Vorteil der USA entwickeln würde.»
Abgesehen davon, sind das aber derzeit alles noch unausgegorene, saure Trauben. Wer sie pressen will, muss aufpassen, sich dabei das Hemd nicht schmutzig zu machen. Kurz, warten wir zunächst mal ab, ob Staatspräsident Rivlin der komischen Struktur überhaupt sein Plazet gibt und Gantz die Fristverlängerung gewährt, obwohl dieser ja gar nicht als Regierungsbildner ins Rennen gegangen ist, sondern nur als potenzieller Vizepremier, der im Moment eher so aussieht wie der Knecht, der für «König Bibi» die Kastanien aus dem Feuer holen muss. Und nebenbei: Die haben Nerven! Da sterben weltweit täglich Tausende von Menschen an einem Virus, aber in Jerusalem bringt man es offenbar nicht fertig, ein aktionsfähiges und -williges Kabinett auf die Beine zu stellen.
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Trotz Corona-Krise: Das Ringen um die Regierungsbildung in Israel geht weiter
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. April 2020