IMG 1772Erinnerung an die Widerstandskämpferin Lore Wolf

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Bedingt durch die Einschränkungen im Gefolge der Coronakrise wird es dieses Jahr keine öffentlichen Kundgebungen zum 1. Mai geben. Wie man sich als politischer Mensch fühlt, aus ganz anderen Gründen daran gehindert zu werden, an einer Mai-Kundgebung teilzunehmen, beschreibt die Widerstandskämpferin Lore Wolf in ihrem Buch „Ein Leben ist viel zu wenig“.

DSC 7040aEs erschien, versehen mit einem Vorwort von Anna Seghers, 1986 im Frankfurter Röderberg-Verlag. Lore Wolf beschreibt darin ihre Situation wenige Stunden vor Beginn des Prozesses gegen sie vor dem Volksgerichtshof. Die Anklage warf der 41Jährigen Vorbereitung zum Hochverrat vor. Es folgen Auszüge:

Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie mich holen werden. Ich habe innerlich mit allem abgeschlossen, bin frei von Angst. Was kann mir noch passieren. Die Chance, zu überleben, ist gering. Heute ist der 1. Mai. Ich stelle mir vor, wie unsere Fahnen im Wind schwingen. Wir halten uns an den Händen. Wir sind stark. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich neben mir Juliane Salzmann gehen. Hannes Marchwitza kommt dazu, Johanna Kirchner, Sepp Wagner, auch Otto Brenzel. Immer mehr Genossen tauchen auf. Ich sehe ihre Gesichter, ihre Gestalten. Wenn ich sie alle aufzählen wollte, würde es Stunden dauern.

Unser Tag, der 1. Mai! Mir wird ganz warm ums Herz. Leise stimme ich an: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Lauter und immer lauter singe ich. Als ich alle Strophen gesungen habe, setze ich mit der „Internationale“ fort. Über und unter mir, links und rechts von mir und auch von der Zelle gegenüber  klopfen Fäuste an die Wände und Türen. Die politischen Gefangenen haben mich gehört. Meine Zellentür wird aufgerissen, Aufseherinnen stürzen herein. „Wolf, was machen Sie! Hören Sie sofort auf!“

Sie glauben, dass ich verrückt geworden bin und mich durch lautes Singen zu beruhigen versuche. „Ich feiere den 1. Mai“, sage ich, „das ist alles.“ Dann hole ich den Zettel mit der Vorladung heraus und zeige ihn. „Was habe ich noch zu verlieren?“ frage ich. Sie gehen wortlos. Mein Leben steht auf der Kippe. Ich kann mich nicht abstoßen, nicht verkriechen, nicht retten. Die Zelle ist dicht verschlossen, die Freunde fern, mein Kind irgendwo.

Man hat mich den „weißen Raben der Kommunisten“ genannt. Als Widerstandskämpferin und Emigrantin stand ich – wie viel andere – immer mit einem Bein im Gefängnis. Zwanzigmal war ich gefangen, neunzehnmal bin ich entkommen. Die Grenzen der Länder überschritt ich wie früher die Schwelle meiner Wohnung, nur die Gefahr, verhaftet zu werden, wuchs von Jahr zu Jahr. Hunger und Einsamkeit wurden vertraute Gefährten. Nun ist alles zu Ende. Die Falle der Gestapo hat zugeschlagen, es gibt kein Entkommen. Der weiße Rabe kann nicht mehr fliegen.

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Am 18, Juni 1941 verkündet der 2. Senat des Volksgerichtshofes das Urteil: Lore Wolf wird wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwölf Jahren Zuchthaus und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von zehn Jahren verurteilt.

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In mir bricht alles auseinander, Schmerz und Hoffnung, Angst und Freude – ich bin gerettet! Am liebsten möchte ich laut singen. Man führt mich in eine Zelle, in der, wie mir der Wachtmeister erzählte, auch Lilo Herrmann nach ihrer Verurteilung untergebracht worden ist. Ich darf meine Schwägerin sprechen und verschlinge die vier belegten Brote, die sie mitgebracht hat. Der Aufsichtsbeamte schüttelt den Kopf: „Zwölf Jahre, und so unbeschwert!“ Er weiß ja nicht, warum ich so glücklich bin. Als ich in Moabit ankomme, erwartet mich schon die Oberin: „Nun, Wolf?“ Ich strahle sie an. „Zwölf Jahre Zuchthaus!“ Sie tritt ein paar Schritte zurück und sieht mich erschrocken an. „Zwölf Jahre – und keine Träne?“ Sie kann es nicht fassen.

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Im März dieses Jahres wurde auf Wunsch der Höchster Senioreninitiative an dem Haus in der Gerlachstraße, in dem Lore Wolf lange Zeit gelebt hat, eine Gedenktafel für die Widerstandskämpferin enthüllt. Weltexpresso hatte darüber berichtet. 

Fotos:
Cover
Lore Wolf, 2. von links, unser Autor Kurt Nelhiebel rechts außen
© privat

Info:
Lore Wolf überlebte das NS-Regime und starb am 4. August 1996 in Frankfurt am Main als deutsche Kommunistin, Verfolgte des NS-Regimes und Politikerin.

https://weltexpresso.de/index.php/lust-und-leben/18599-informationstafel-fuer-die-frankfurter-widerstandkaempferin-lore-wolf

https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/18678-lore-wolf


Lore Wolf, Ein Leben ist viel zu wenig, Röderbergweg Verlag