Über die Umdeutung der Grundrechte
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Die in unserer Verfassung aufgelisteten Grundrechte beginnen nicht etwa mit dem Recht auf Leben, sondern mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.“
Unwissende und Leichtgläubige werden dem Philosophen Otfried Höffe möglicherweise diese Behauptung abnehmen, die er am 30. April in einem Beitrag für die „Frankfurter Rundschau“ aufstellte. Nein, in Artikel 1, Absatz 1, heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
In Absatz 2 des Artikels wird bekräftigt, dass sich das deutsche Volk zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt. Und Absatz 3 bindet Legislative, Exekutive und die Rechtsprechung an dieses unmittelbar geltende Recht.
Die Würde des Menschen bedeutet in der Rechtsphilosophie den Wert, der jedem Menschen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter oder gesellschaftlichem Status - zukommt. Dieses Rechtsgut spielt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in der Kommentierung des Grundgesetzes, welche die höchstrichterlichen Entscheidungen wiedergibt, erläutert und die Rechtsentwicklung beschreibt (so in den Kommentaren von Maunz/Dürig und von Mangoldt/Klein/Starck) eine große Rolle. Es wird von den Juristen als „Objektformel“ bezeichnet. Sie soll den allgemeinen Begriff „Menschenwürde" konkret füllen. Der Rechtsgelehrte Christian Starck, Mitherausgeber und Mitverfasser des Kommentars von Mangoldt/Klein/Starck, beschreibt dieses Menschenrecht so:
„Artikel 1, Absatz 1, verhindert, dass der Mensch durch den Staat oder durch seine Mitbürger als bloßes Objekt, das unter vollständiger Verfügung eines anderen Menschen steht, als Nummer eines Kollektivs, als Rädchen im Räderwerk behandelt und dass ihm damit jede eigene geistig-moralische oder gar physische Existenz genommen wird.“
Dieses Ideal geht vor allem auf Immanuel Kant zurück. Der hat den Menschen als „Zweck an sich“ bezeichnet (in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“). Als Elemente dieser menschlichen Achtung und Selbstachtung nennt er
die Achtung vor dem anderen,
die Anerkenntnis seines Rechts zu existieren
die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit des Menschen.
Der Schutz der physischen Existenz (also der von Leib und Leben) ist die praktische Folge der geistig-moralischen Zustimmung der Bevölkerung in einem demokratisch verfassten Staat, der die Menschenrechte uneingeschränkt anerkennt und einlöst. Dieser Imperativ ist Bestandteil des ersten Artikels des Grundgesetzes.
Artikel 2 des Grundgesetzes schützt in Absatz 1 das Recht auf frei Entfaltung der Persönlichkeit (soweit dieses nicht die Rechte anderer verletzt) und in Absatz 2 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Otfried Höffe hält diesen Artikel aus nicht genannten Gründen für den eigentlichen Beginn der Grundrechte (was objektiv nicht zutrifft) und er ist zudem der Auffassung, dass in diesem eine Wertefolge zum Ausdruck käme. Doch die Absätze 1 und 2 sind keineswegs als Rangfolge zu verstehen (etwa, dass das Recht auf Leben sich dem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung unterordnen müsse), sondern zeigen die Grenzen der individuellen Entfaltung an, falls diese in die Rechte anderer eingreift, explizit in deren Leben und deren körperliche Unversehrtheit. Damit liegt Artikel 2 auf der Ebene von Kants Sittenlehre, die nicht von einem Entweder – Oder ausgeht, sondern von der Gleichberechtigung der Prinzipien. Ein Grundsatz, der sich in der erwähnten Objektformel wiederfindet.
Die Würde des Menschen (in den dargestellten Dimensionen), das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit stehen nicht nur als theoretische Normen in der Verfassung, sie müssen auch in der Verfassungswirklichkeit (also im alltäglichen Leben) gleichrangig angewendet werden. Wobei die von der Verfassung zugelassenen Einschränkungen zwar zu beweisen sind, sich die Beweislast jedoch aus den Grundgesetzartikeln selbst ergibt. Da der Mensch der „Zweck an sich“ ist (Kant), muss er darauf vertrauen dürfen, dass sein Recht auf Existenz theoretisch und praktisch ausnahmslos anerkannt wird.
Otfried Höffes Rechtfertigung sowohl von Wolfgang Schäubles unlängst erfolgter Relativierung des Lebensrechts als auch der von ihm selbst herbeigeredeten „Herrschaft von Virologen und Epidemiologen“ ist ein Populismus, der auf den Beifall des nichtinformierten Teils der Bevölkerung zielt. Möglicherweise verstehen sich seine Äußerungen auch im Rahmen des Arbeitsauftrags, den die von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet einberufene Expertenkommission erfüllen muss. Deswegen ist die Vermutung nicht abwegig, dass diese Kommission den Vorrang kommerzieller Interessen gegenüber verfassungsrechtlichen Forderungen begründen soll.
Auf der Basis der Anzahl der von Corona Infizierten und der Infizierungsgeschwindigkeit zum Stichtag 15. März sowie unter Berücksichtigung von Entwicklungen in Ländern, die keine oder weniger restriktive Maßnahmen erlassen haben, habe ich versucht, das realitätsnahe Szenario eines „Weiter so“ zu skizzieren:
Hätte der Staat die Sorg- und Verantwortungslosigkeit der Wirtschaft, insbesondere der globalisierten Industrie einschließlich des Luftverkehrs und des internationalen Vergnügungstourismus, trotz objektiv vorhandener Corona-Pandemie weiterhin toleriert und nicht eingegriffen, fehlten den Betrieben Ende April/Anfang Mai krankheitsbedingt weite Teile der Belegschaft (für wenige Wochen bis hin zu mehreren Monaten) und die Produktionsstopps würden längst chaotische Ausmaße annehmen. Da würde auch kein Homeoffice mehr helfen. Ebenso wäre der Inlandskonsum mit Ausnahme von Gütern des täglichen Bedarfs zusammengebrochen, weil sich die Gesunden kaum noch hinaustrauen würden. Das exponentielle Wachstum der Infizierung hätte eine exponentielle Krise sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche nach sich gezogen. Ganz zu schweigen von dem dann unausweichlichen Zusammenbruch des Gesundheitssystems und des Erziehungs- und Schulwesens.
Doch dies ist erfreulicherweise nicht eingetreten. Durch die Maßnahmen der Bundesregierung (Umsetzung des Bundesseuchengesetzes in enger Anlehnung an das Grundgesetz) scheint die Ausbreitung des Virus zumindest in Grenzen beherrschbar geworden zu sein. Dennoch gibt es massive Probleme. Allerdings mehren sich Indikatoren dafür, dass Corona eher die strukturellen Schwächen bestimmter Wirtschaftssegmente offengelegt hat und nicht grundsätzlich der alleinige Grund für Produktionsstopps etc. ist. Bei einer genauen Analyse lässt sich feststellen, dass sowohl die Art des Wirtschaftens (Profit contra gemeinwirtschaftliche Interessen) als auch die Gestaltung privater Lebensentwürfe allzu häufig so angelegt sind, als sei mit Krisen, vor allem mit von Menschen verursachten Seuchen oder Naturkatastrophen sowie politischen Umbrüchen in Schwellenländern, nicht zu rechnen. Haben wir uns nicht vorstellen können oder wollen, dass angesichts des leichtfertigen Umgangs mit der Natur (die Zerstörung des Klimas inbegriffen) ein mutiertes Virus unkontrolliert die ganze Welt befallen und Hunderttausende, gar Millionen existentiell schädigen könnte?
Ich verkenne nicht die extreme Situation von Eltern und Alleinerziehenden, die sich ohne externe Hilfen um ihre Kinder kümmern müssen. Und ich kann mir vorstellen, dass Alleinlebende die verordneten Kontaktbeschränkungen sehr belasten. Auch die Situation in Alten- und Pflegeheimen ist mir im vollen Umfang bewusst.
Andererseits: Über was informieren wir uns pausenlos mit unseren hochmodernen Smartphones? Handelt es sich um Geschwätz, um Mundfürze? Produzieren wir im Zuge der um sich greifenden Spracharmut (geil, mega, super) permanent Sprechblasen und geben wir den Verstand bei Facebook, Whatsapp & Co. ab? Vieles spricht dafür, dass die Corona-Pandemie natürliche und soziale Ursachen hat. Dass sie einerseits die Reaktion einer um ihr Gleichgewicht gebrachten Natur ist. Und andererseits begünstigt wird durch die Manipulation unseres Intellekts. Auf die Fremdbestimmung unserer Persönlichkeit durch Interessen, die nicht aus unseren genuinen Lebensinteressen herleitbar sind. Dass wir uns (möglicherweise unbewusst) nicht mehr als „Zweck an sich“, sondern als Instrument anderer verstehen?
Im Gegensatz zu dem Laissez-faire-Szenario, das ich beschrieben habe, gibt es aber, weil ein Anfang gemacht wurde, realistische Ausweg-Perspektiven. Diese setzen jedoch die uneingeschränkte Befolgung der Schutzmaßnahmen voraus (Abstand, Hygiene, Maske). Damit lässt sich auch Arbeit gesundheitsfördernd organisieren (die meisten Supermärkte haben es vorgemacht, industrielle Großbetriebe wie Volkswagen folgen nun). Nach ähnlichen Prinzipien der Entflechtung (neue Definition der täglich verfügbaren Zeit sowie der fließenden Nutzung von Räumen und Wegen, begleitet von der Schaffung beweglicher Personalkontingente), ließe sich auch der Schulalltag (inklusive Kindertagesstätten) gewährleisten.
Auch deswegen sollten wir auf Apologeten der Vereinfachung (z.B. Otfried Höffe und Wolfgang Schäuble) nicht mehr hören.
Foto:
Grafische Umsetzung von Grundgesetz-Artikel 1 am Bundestag
© Bundeszentrale für politische Bildung
In dem Beitrag wird auf zwei führende Grundgesetzkommentare verwiesen:
Maunz / Dürig
Grundgesetz
Kommentar
Aktuell ist die 89. Auflage 2020. Loseblatt. Rund 15266 Seiten. In 7 Leinenordnern
Stand: Oktober 2019
Verlag C.H.BECK
ISBN 978-3-406-45862-0
Mangoldt / Klein / Starck
Kommentar zum Grundgesetz in 3 Bänden
Aktuell ist die 7. Auflage 2018. 7074 Seiten. Hardcover (Leinen)
Verlag C.H.BECK
ISBN 978-3-406-71200-5