kurt kari8. Als das Wort Befreiung noch ein Tabubruch war

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) –  Die nebenstehende Karikatur habe ich vor 55 Jahren gezeichnet. Veröffentlicht wurde sie am 13. Mai 1965 von der in Hamburg erscheinenden linkssozialistischen „Anderen Zeitung“, an deren Spitze der ehemalige Chefredakteur des sozialdemokratischen Zentralorgans „Vorwärts“, Dr. Gerhard Gleissberg,  stand.

In Anspielung an das Bild von den drei Affen nahm ich den Umgang der SPD, der CDU und FDP mit der Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 aufs Korn. Keine der drei Parteien hatte den Mut, diesen Tag als das zu benennen, was er de facto und vor der Geschichte war, als Tag der Befreiung. Alle hatten Angst vor den Wählern, wussten sie doch, dass die meisten Deutschen dem Naziregime bis zum Schluss treu gedient haben. Sie empfanden das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.

Jahrzehnte hat es gedauert, ehe die Erkenntnis herandämmerte, dass die Zerschlagung des Naziregimes Voraussetzung war für die Rückkehr Deutschlands in die Familie der zivilisierten Völker. Einen der Höhepunkt dieses Reifeprozesses stellte 1975 die von den Veranstaltern so bezeichnete große Kundgebung zum 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus auf dem Römerberg in Frankfurt am Main dar, zu der ein Bündnis gesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersönlichkeiten aufgerufen hatte.

IMG 1846Die Frankfurter Rundschau, deren Bericht über die Veranstaltung ich aufbewahrt habe, hielt es für geraten, sich durch Anführungszeichen von deren Motto zu distanzieren. Gleichwohl sprach sie rühmend von der größten Kundgebung, die es seit dem Kriegsende in Frankfurt gegeben habe. 25.000 Menschen seien vom Opernplatz aus zum Römer gezogen. Trotz „all der Massen“ habe es weder auf dem Demonstrationszug durch die City noch am Römerberg irgendwelche Zwischenfälle gegeben. Begeistert seien über  Lautsprecher die „Kameraden der Bundeswehr“ begrüßt worden, als diese in Uniform unter der Parole „Nie wieder Krieg“ eintrafen.

Worum es den Demonstranten gegangen sei, so die Rundschau, habe der Schriftsteller Bernt Engelmann als Hauptredner deutlich gemacht. Dass der 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus kein Staatsfeiertag sei, beweise, „dass der Faschismus als latente Gefahr weiter vorhanden“ sei. Natürlich sei das nicht mehr der „gestiefelte Faschismus des Nazireiches“, sondern „ein smarter Faschismus, je nach Bedarf sportlich oder korrekt gekleidet oder im Loden-Look“. Unter lang anhaltendem Beifall  habe Engelmann klargemacht, dass es darum gehe, diesen Faschismus zu schlagen, aber „nicht mit anarchistischem Terror“. Notwendig sei eine „klare Absage an jene Rattenfänger, die sich christlich und sozial nennen und so tun, als hätten sie die Demokratie erfunden“.

Da war es noch zehn Jahre hin bis zu der historischen Rede Richard von Weizsäckers, der als Bundespräsident in einer Gedenkstunde des Bundestages zum 40. Jahrestag des Kriegsendes den magischen Satz vom 8. Mai als Tag der Befreiung sprach. Die meisten Deutschen hätten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Volkes zu kämpfen und zu leiden, sagte von Weizsäcker einleitend. Das sei nicht nur vergeblich und sinnlos gewesen, sondern habe den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Der Blick sei zurückgegangen in einen dunklen Abgrund und in eine ungewisse dunkle Zukunft. Dennoch sei von Tag zu Tag klarer geworden, „was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Dieser Aussage fügte Richard von Weizsäcker die denkwürdigen Worte hinzu:  „Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei den Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.“

Für viele seiner Parteifreunde in der CDU hatte Richard von Weizsäcker damit ein Sakrileg begangen, das sie ihm lange nachtrugen. Inzwischen sind weitere 35 Jahre vergangen, ohne dass auch nur ein Wort dieser Rede etwas von seiner Bedeutung verloren hätte, auch wenn der 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus im Schatten des Geschehens um die Coronapandemie steht. Das Bedauern, dass der 8. Mai immer noch kein Staatsfeiertag ist, geht als Auftrag an kommende Generationen über.

Foto:
Karikatur
© Kurt Nelhiebel