68 wird oft zu speziell reklamiert, es war aber nicht einheitlich, sondern vielschichtig
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso)n - 1968 wird zunächst meist mit dem Sozialen und Politischen im Kontext gesehen, aber eigentlich war es, bzw. wurde es zur Kulturrevolution, die weltpolitische Dimensionen erlangte.
Die Bewegung entwickelte sich global. Es war als ob das Innere mit allergrößter Vehemenz gegen die äußeren Verhältnisse aufbegehrte und erkannte, dass es seine Chance hat, eine, die anstand und sich in globalem Maßstab eröffnete. 68 war Kulturrevolution, aus der Tiefe des Somatischen hervorbrechend.
Das neue Movement drehte sich auch um den unmittelbaren Kampf von Lohnarbeit und Kapital. Das alleine aber wäre zu förmlich angelegt gewesen, auch wenn es diesen Kampf zu jeder Zeit gab und geben wird, solange das flottierende Kapital als dürftige Klammer in Gesellschaften fungiert. Es fand ein Rückgriff auf einen alten Gewährsmann statt, das Aufgreifen verzweigte sich und bestand nicht wenig in der Aufarbeitung und Neuauflage der marxschen Theorie. Es lagen dennoch tiefere Gründe vor, die mehr das Kulturgefüge angingen. Klassenkonflikte wurden im Lehrbetrieb ausgefochten bzw. wieder neu aufgenommen, Lehrherren wurden herausgefordert, ein bisschen auch an der Nase herumgeführt, das lag im Trend. Spontane Riots (US-Zeitungssprache) waren davor in den entwickelteren, korporierten Gesellschaften in den Hintergrund getreten, treten aber immer wieder auf, wenn Charaktere sich auflehnen.
Neu war die Entwicklung dahingehend, dass die Gesellschaft nicht so sehr über politische und ökonomische Mechanismen, sondern mehr unter Einbeziehung und Anwendung neuartiger Aktionsformen in Bewegung versetzt wurde, nach dem Vorbild der Civil Disobedience und dem Civil Rights-Movement, die die Auflehnung auf neue Spitzen trieben, wobei die Methoden unter komplexeren Bedingungen anzupassen waren. Das bewegte sich auch ins jugendlich Skurrile und Burleske, wie könnte es anders sein. Doch Bob Dylan-Songs strahlen noch immer in höchster lyrischer Qualität. Im Zentrum stand der Konflikt um die rasend schnelle Erringung eines neuen Kulturmodells. Es begab sich eine Zeitenwende. Diese gilt weiterhin noch als eine post-autoritäre und nicht-institutionelle. People in Motion war Grundgefühl. Wir stiegen in der Berufsschule zum Rektor hinauf und brachten unsere Anliegen vor. Das klappte, weil die Oberlehrerkultur in die Defensive gekommen war. Zum politischen Unterricht war die angesagte Literatur am oberen Ende der Sitzbank aufgereiht. Das kam beim Lehrer recht komisch an, der aber ein Braver im Verständnis war, kein in der Wolle gefärbter alter Kämpfer des Nachlebens Hitlers mehr. Nur der noch ältere Kunst-Lehrer, der Battes hieß, ließ rassistische Theorien von der Unvereinbarkeit der hellen und dunklen Teints und Hautoberflächen vom Stapel.
Rückblickend wird klar: nichtstaatliche Organisationen und Akteur*innen, Pionier*innen der nunmehr aufkommenden sozial-ökologischen Wende gewannen seitdem immer mehr an Bedeutung und Einfluss, die jetzt der Rechtsnationalismus und Rechtsradikalismus konterkarieren will, um das Rad zurückzudrehen und weil ihm ein noch weitergehendes Modell der Überwindung autoritärer Bastionen überhaupt nicht in den Kram passt. Dahinter steckt viel an anachronistischer Männlichkeit. Die gegenwärtige etablierte Politik allerdings leistet nicht im mindesten, was sie müsste. Sie kriegt kein Vorhaben, keine grundlegende Reform, keine Bahnen brechende Erneuerungen und Veränderungen mehr halbwegs gebacken. Das hilft neuen Verführern und Blendern. Sie kann es auch nicht allein, weil ein Neuentwurf so umfassend sein muss, dass er nie bloß die Angelegenheit kleiner Schrittchen, Völkchen und Grüppchen sein kann.
Die kommende Periode wird mehr noch eine der der sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Kulturrevolution sein müssen. Bildung und Aktivitäten in Musik und Bildender Kunst müssen frühpädagogisch angestoßen werden, denn die Wirkungen, die sich daraus ergeben, sind die einzigen, die garantieren, dem Ungeist die Stirn bieten zu können. Diejenigen, die am sozialen Kunstwerk arbeiten, arbeiten am neuen Menschen; sie signalisieren Resistenz gegen autoritäre Praxis. Neben dem Gang durch die Institutionen, der unspektakulär vor sich geht, ist aber die Rückständigkeit jener, die sich Bildender Kunst und Musik von Rang entziehen, als Gefahr zu betrachten.
68 begab sich an der Scheidelinie zwischen autoritärem und antiautoritärem Charakter und Modell. Der autoritäre Charakter wird nach Erich Fromm von der sadomasochistischen Persönlichkeit beherrscht. In 68 blieb oft noch der autoritäre Charakter dominant, er switchte teils nur nach Links, legte sich hier ein antiautoritäres Mäntelchen zu, um dann vielleicht auch mal wieder in den Rechtsautoritarismus zu wechseln, was nicht selten vorkommt. Dazu weiß der Autor von einem krassen Fall. Früher Bloch, jetzt PC durchgestrichen und Rückfall in älteste, regressive Denkmuster. Die RAF war die militante, terroristische Fraktion der 68er, die ihre Wurzeln im autoritären Charakter hatte. Es gab kaum etwas Autoritäreres als einen Baader und eine Ensslin. Das lief absurderweise auch unter dem Etikett jugendlicher Rebellion gegen die nazistische Vätergeneration ab. Möglichweise überdauert das alte Modell zumindest graduell immer im Neuen, was das freudsche Theorem von der konservativen Natur des Lebens bestätigen würde.
Großer Geist: erteile uns wieder eine neue Zeitenwende
68 begann also mit Kulturrevolution. Ach, war das eine Lust, wenn die afro-amerikanisch-englische Popmusik ans Trommelfell rührte, mit Chuck Berrys Roll Over Beethoven (das er völlig entspannt, ohne die Zähne zu fletschen, hinlegt) und seinem Johnny B. Goode, dem besten Stück des Rhythm and Blues. Das waren Momente der Neuschaffung der Welt. Es sind mehr die atmosphärischen Elemente, Begebenheiten und Details gewesen, die in neuartige Sphären zu erheben den Anstoß gaben. Was war es für ein Genuss, wenn beim spät-abendlichen, geheimen Kofferradio-Hören (Radio Luxemburg auf Kurzwelle) – man wollte ganz für sich mit der neuen Welt sein – das ‚Shaking all over‘ von den Swinging Blue Jeans oder den Lords mit seinem gestolperten Response des Lead und dem geschmeidigen Wechsel ins Stakkato ans Ohr drang und die Gehirnzellen beglückte. Der Schauer war unvermeidlich. Einen Zusatz an Dopamin benötigte es nicht. Taste it:
https://www.youtube.com/watch?v=pHEcpYbdICI
https://www.youtube.com/watch?v=sij1R6cjh4A
https://www.youtube.com/watch?v=uswXI4fDYrM
Es waren also mehr die kleinen Episoden und Begebenheiten, die das Lebensgefühl jener Jahre in wenigen Wochen umformten. Eine neuartige Szene tat sich auf der Odenwalder Breuburg auf, als während einer mehrtägigen Klassenfahrt an einem Abend unerwartet eine Skiffle-Group auftrat, die vorher gar nicht angesagt war. Das zündete, denn an dieser für uns angemessenen Rhythmik hatten wir mit 14 noch Mangel. Selbst der Deutsch-Lehrer zog mit. Er verstand uns, denn er war ein kritisch gewordener Weltkriegs-II-Teilnehmer. Der Abend hatte Offenbarungscharakter.
Gut ein Jahr später, 1965. In einem Lokal auf Borkum – ach, nahe bei Borkum lagen die Piratensender Radio One und Radio Caroline im Kanal und verbreiteten ihre Botschaft – kam es zur Konfrontation mit einer Lokal-Bedienung, weil wir in der Jukebox dauernd Beatles-Songs laufen ließen, was die Bedienung so sehr nervte, dass sie Protest einlegte und einzuschreiten gedachte. Sofort verwandte sich der Mann der progressiven Klassenlehrerin, der begleitend mitgekommen war, für uns, stellte sich auf unsere Seite, indem er argumentierte, dass wenn eine Jukebox die Beatles anbiete, diese auch gespielt werden dürften. Damit war alle weitere Diskussion abgeschnitten.
Das neue philosophische Lebensgefühl – gemischt mit fühlbarerer Verbundenheit mit dem Ganzen und der Einsamkeit inmitten der Erwachsenwelt – ergab sich mit einem Song wie ‚Hey, Mr. Tambourin Man‘ von Bob Dylan. Die innere Freiheit der Entscheidung, irgendwo zwischen aktiv und kontemplativ, bildete sich heraus. In jenen Tagen an der Nordsee krächzte und klimperte ununterbrochen auch Dylans ‚Like a Rolling Stone“ von den Piratensendern herüber. Verdammt, die Zeitperiode, in die wir reingeboren wurden, war ein unglaubliches Privileg unserer Entstehungszeit.
Das Interview von Günter Gaus mit Rudi Dutschke wurde zur politischen Offenbarung für die neue Perspektive auf Politik und Gesellschaft. Die Zeit schien ausersehen, dass wir das, was die Civil Rights-Bewegung unter krassesten Umständen vorgemacht hatte, unter europäischen Bedingungen in die Hand nehmen sollten - so schien irgendein Geschick es für uns bestimmt haben zu wollen. An einem Abend des Frühherbstes 1965, wo wir im Landschulheim auf Borkum einquartiert waren, begaben wir uns des Abends auf dem asphaltierten Damm entlang und kehrten in einem Lokal ein, in dem wir viele Male ‚Set me free‘ von The Kinks auflegten und dazu tanzten. Die paar Stellen, an denen die Rhythmusgitarre so unvergleichlich hochzieht, kamen in ihrer Art so neu und übersphärisch an, dass einen die Illusion ergriff, in der völlig neu gemachten Welt angekommen zu sein. Selbstverständlich war die Beziehungsproblematik, die in dem Song der Kinks anklang, etwas zutiefst Einsichtiges.
Drei Jahre vorher begab es sich, dass im Jungscharlager der schlagermäßig vorgetragene Gesang eines Jungschärlers in der Singweise von Manuela den Mittag durchschnitt; aus der jungen Kehle, die diese Gesangslage vortrefflich beherrschte, kam das im Rund mit den gekommenen Eltern richtig gut an, er wurde zum Star. Es war die Einleitung zu dem, was im Kommen war. Während der Busfahrt ins Zeltlager spielte ein Jungscharleiter auf der hinteren mittleren Sitzbank Rock´n Roll-Motive an; diese Art der Gitarrennutzung war noch ganz neu, während wir kurz zuvor noch im Canon einer Kiesgrube herumstiegen, Karl-May im Hinterkopf (was nicht ungefährlich war).
Als geistige Wende kam auch an, dass der Jungscharführer einem Vater, der zu Besuch ins Zeltlager gekommen war, ausdrücklich widersprach, als dieser sich zu dem Kommentar herbeiließ, dass Zelten doch als vormilitärische Veranstaltung zu sehen sei und auf den späteren Ernst vorbereite. Was schluckte er, als er eine Abfuhr erteilt bekam. Viele kleine Begebenheiten wurden zu Wegmarken in eine neue Zeit, sie nahmen für uns die allergrößte Bedeutung an. In klarer Erinnerung ist auch ein gewisser Heinz geblieben, der als Emissär aus der DDR zur Visite in den Westen gekommen war und bei der Jungscharleitung eine zeitlich begrenzte Aufnahme gefunden hatte. Das war die Vorstufe zur guten Nachbarschaft, die später in politischen Staatsakten etabliert wurde.
Kommen wir Sechziger und Achtundsechziger zusammen, so bestätigen und erheben wir uns immer wieder in Anbetracht der einzigartigen Ära und Epoche der Sechziger und Achtundsechziger Jahre. Der Sechziger aufgrund der Lieder und Songs, die uns eine gleichsam privilegierte Grundlegung bereiteten. Lieder wie Like a Rolling Stone, Hey Mr. Tambourin Man, All Day and all oft he Night, Waterloo Sunset, Tales of Brave Ulysse und And I love her sowie das Strawberry Fields forever. Mit dem kurzen musikalischen Zeitfenster wurden wir von der Vorsehung regelrecht in eine Gnade versetzt und privilegiert und können es eigentlich immer noch nicht recht fassen, dass es in diesen anfangs- und endlosen Zeiträumen ausgerechnet uns betraf, was da geschah. Achtundsechzig, das war Musik und Politik.
Was die Achtundsechziger*innen intendierten ist noch längst nicht eingelöst. Die Menschen sollen sich mehr denn je der Kapitalverwertung und Profitmaximierung unterwerfen, damit der gesellschaftliche Erfolg sich bei den Wenigen konzentriere, während die geschundene Natur zugrunde geht. Das ist Menschen- und Naturverachtung. Wenigstens aber sind viele von uns noch nicht zu den eingefleischten Philistern geworden, bei deren Anblick der Philosoph erschrecken müsste - um es bei einer Wendung des Philosophen G.W.F. Hegel abschließend bewenden zu lassen.
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