Theologische Impulse Hintergrund fuer FB Impuls 63 Traumorte 560x420 4fc864e6d6958aff7cee5348545106a9Theologische Impulse 63

Thorsten Latzel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Gestatten Sie mir – kurz vor dem Urlaub – drei persönliche Fragen:
Wovon träumen Sie nachts, gerade in der Corona-Zeit?
Ist Ihnen dabei schon einmal Gott begegnet?
Und welches sind die „Traumorte“ Ihres Lebens?

Mit dem Träumen ist das ja so eine Sache. Ich schlafe ein. Gebe mein Leben aus der Hand. Und werde auf einmal zum Zuschauer im Schauspiel meines eigenen Lebens. Auf der nächtlichen Seelenbühne spielen meine Wünsche, Ängste, Sorgen, Triebe Theater – mein Leben als Tragödie oder Komödie, je nach Lust und Laune und innerer Befindlichkeit. Es geht um mich. Ich spiele alle Rollen – auch die anderen. Denn es sind ja der Kollege, die Lehrerin, die Eltern, Kinder in meinen Kopf. Mein Alter Ego. Und zugleich kann ich nur daliegen und zuschauen. Der Traum als Bühne, Theater, Forum internum der eigenen Seelenkräfte.

„Jetzt tanzen alle Puppen, macht auf der Bühne Licht,
wir tanzen, bis der Schuppen wackelt und zusammenbricht.“

Vor ein paar Jahren habe ich an der Mauer neben dem Dom in Meißen ein Graffito gelesen: „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht.“ Erkenntnistheoretisch ist das natürlich Unsinn: Woher will der Schreiber eigentlich wissen, was ich träume? Und wenn wir uns alle kollektiv im Schlaf befinden, wieso ist eigentlich nur er oder sie wach?

Aber der Spruch hat mich trotzdem irgendwie nicht losgelassen. Die Vorstellung, dass etwas mit unseren Träumen nicht stimmt. Und dass das, was wir Wirklichkeit nennen, selbst ein falscher Traum ist, aus dem wir aufwachen sollten.

Es braucht andere Träume. Keine nächtliche Verdopplung der Wirklichkeit. Sondern lebensverändernde Träume. Die Eröffnung einer anderen Perspektive. Eines neuen Horizonts, in dem es um mehr geht als um das, was es gibt. Der Traum als Einfallstor einer anderen Wirklichkeit. Wie in den Traumgeschichten damals, in früheren Zeiten.

Seinen Bruder hat er betrogen, seinen Vater belogen, danach sich auf Anraten seiner Mutter aus dem Staub gemacht. Jetzt ist Jakob auf der Flucht. Auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft, hin zu seinem Onkel Laban. Einem verschlagenen Typen. „Und die Sonne war untergegangen und er nahm einen Stein und legt ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.“ Nachts, allein in der Wüste – mit nichts als einem Stein, um darauf zu schlafen. Sinnbild eines perspektivlos verirrten Lebens. Und dann hat Jakob diesen Traum. Oder besser gesagt: Der Traum hat ihn. Er widerfährt ihm und öffnet ihm eine andere Wirklichkeit. Nicht ableitbar aus der wüsten Verwirrung seines Lebens. Der Traum von der Himmelsleiter:

„Und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel,
und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach:
‚Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott;
das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden,
und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden,
und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst,
und will dich wieder herbringen in dies Land.
Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.’“

Es ist der Traum davon, dass Gott wirklich existiert. Der Gott seiner Väter und Mütter, um dessen Segen willen er sich mit Vater und Bruder zerstritten hat. Es ist der Traum, dass Gott mit ihm spricht. Der erhabene Gott im Himmel mit dem Menschen in der Lebenswüste. Dass er sein Leben segnet und durch ihn das Leben aller Menschen. Es ist der große lebensverändernde Traum, dass Gott mit uns ist – so lange, „bis er alles getan hat, was er uns zugesagt hat“.

Jakobs Traum ist nicht weniger als eine Revolution des Himmels. Ganz gleich, ob es jetzt eine Leiter oder eine Treppe ist: Der Himmelsherrscher spricht und segnet und bindet sich selbst an diesen konkreten Menschen. Einen eigenartigen, verirrten, fehlerhaften Menschen. Gott schreibt seine Geschichte mit uns auf krumme Linien. Und gibt sich selbst in die Abhängigkeit von uns Menschen.

Noch ein zweites Mal wird Jakob Gott in solch einer intensiven Weise begegnen. An dem anderen Traumort seines Lebens, am Jabbok, in Pnuel. Und auch dann wird es des Nachts sein. Die wichtigen Begegnungen mit Gott ereignen sich, wenn es dunkel ist. Dann wird Gott die Himmelsleiter hinabgestiegen sein und ihn anspringen wie ein Flussdämon. Wie ein böser Nachtgeist. Wie eine finstere Macht. Die dunkle Seite Gottes. Und Jakob wird mit ihm kämpfen, ringen, körperlich bis zur Grenze: um sich, sein Leben. Bis Gott ihn am Ende segnet. Bis Gott aufgibt und Jakob als hinkenden Sieger vom Platz geht. Und dann heißt es in der Geschichte: „[...] und als Jakob an der Stätte Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf. Und er hinkte an seiner Hüfte.“

Die ganze Geschichte dazwischen – zwischen dem Sonnenuntergang in Bethel und dem Sonnenaufgang in Pnuel, die zwanzig Jahre in der Fremde, im Dienst bei seinem hinterlistigen Onkel Laban: ein einziger großer lebensverändernder Traum, dass Gott wirklich ist, dass er mit ihm spricht und dass er ihn nicht allein lässt, bis er alle seine Verheißungen erfüllt hat.

Ich weiß nicht, ob Jakob ahnte, wofür er Esau die Linsensuppe gegeben hat. Und ob er es noch einmal gemacht hätte, wenn er es gewusst hätte, welchen Preis es hat, von Gott gesegnet zu sein. Der Segen Gottes macht das Leben nicht einfacher. Aber er macht es tiefer, weiter und reicher. Und er verändert unsere Träume: „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht.“

Die ganze Lebensgeschichte Jakobs als ein Weg zwischen zwei Traumorten: Beiden Orten, an denen Jakob Gott begegnet, gibt er später einen neuen Namen. Beth-El – Haus Gottes – „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels.“ Und Pnu-El – Angesicht Gottes – „denn ich habe Gott von Angesicht gesehen und doch wurde mein Leben gerettet.“ Es sind Orte, an denen sich seine Träume verändern, an denen ihm Gott begegnet, an denen er Erfahrungen macht, die sein Leben tiefer, weiter, reicher machen. Orte, an die er später wieder zurückkehrt, weil mit ihnen seine Geschichte zusammenhängt.

Vor ein paar Jahren hat sich die Evangelische Akademie Frankfurt in einem Projekt auf die Suche nach Traumstätten, Sinnorten, Plätzen der Stille in der Innenstadt von Frankfurt gemacht. In der funktionalisierten Topografie unserer Städte kommen solche Orte selten vor. Was vielleicht mit der Banalisierung unserer Träume zusammenhängt. Gott hat es schwer in Shoppingmalls – an sinnentleerten, austauschbaren „Nicht-Orten“ (Marc Augé). Wir stießen dabei – neben Kirchen, Museen, Theater, Oper – auf die Geschichte der drei Frankfurter Stadtklöster: das Dominikanerkloster (in der Kurt-Schumacher-Straße), das Liebfrauenkloster (an der Liebfrauenstraße) und das Karmeliterkloster (in der Münzgasse). Es sind alte Gebäude, die früher mitten in der Stadt eigens dafür gebaut wurden, um – neben anderen Aufgaben – in die Stille einzukehren: Orte des Gebets, der Gemeinschaft, der Stille. Orte, die uns oftmals verloren gegangen sind. Orte, um auf andere Träume zu kommen.

Im Urlaub, so vermuten manche Religionswissenschaftler, gehe es immer auch um einen „Wunsch nach Verwandlung“ (Christoph Hennig). Die Sehnsucht nach Traumorten, an dem wir andere, bessere Träume haben können. Für alle, die gerade in der Corona-Zeit nicht schlafen können. Die noch die Steine in ihrer Lebenswüste zu ihren Häupten legen oder am Jabbok mit dem Flussdämon kämpfen: Hören Sie nicht auf zu kämpfen, bis Gott Sie gesegnet hat. Bis der nächtliche Dämon sich verwandelt. Und bis Gott all die großen Verheißungen erfüllt, die er damals an sein Volk Israel und an seine ganze Schöpfung gegeben hat.

Wovon träumen Sie nachts, gerade in der Corona-Zeit?
Ist Ihnen dabei schon einmal Gott begegnet?
Und welches sind die „Traumorte“ Ihres Lebens?

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Urlaubszeit – mit lebensverändernden Träumen an besonderen Orten.

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Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche in Frankfurt
Weitere Texte finden Sie unter:
www.glauben-denken.de
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