Bildschirmfoto 2020 08 07 um 20.15.32Die Explosion vom 4. August verwüstete nicht nur den Hafen von Beirut, sondern die ganze Hauptstadt auf einen Schlag

Richard C. Schneider

Beirut (Weltexpresso) - Die schreckliche Explosion in Beirut am Dienstag, den 4. August, kommt für den Libanon zur Unzeit. Das Land befindet sich in einer der schlimmsten Krise seiner Geschichte. Die Wirtschaft liegt komplett am Boden, die Arbeitslosigkeit hat enorme Ausmasse angenommen, derzeit liegt sie bei über 35 Prozent. Reformen werden von Premierminister Hassan Diab, der mit Unterstützung der Hizbollah regiert, nicht in Angriff genommen, ganz im Gegenteil:
Bei einem Besuch des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian vor einer Woche wurde dieser von Diab ziemlich undiplomatisch beschimpft, weil Frankreich nicht die finanzielle Hilfe leisten will, die sich der libanesische Premier erwartet. Le Drian wies Diab darauf hin, dass dieser sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auseinandersetzen müsse. Und das bedeutet: Die internationale Organisation würde nur dann Geld herausrücken, wenn Diab die schon lang versprochenen Reformen auch durchführen würde. Doch Diab will nicht. Er will oder kann nicht gegen die Korruption und die Misswirtschaft im eigenen Land angehen.

Am Montag, also einen Tag vor der Explosion, ist der renommierte Politiker Nassif Hitti als Außenminister aus Protest gegen Diab zurückgetreten. Er war unzufrieden, dass die Reformen nicht endlich in Angriff genommen wurden. Noch am Dienstagmorgen hatten Dutzende Libanesen versucht, das Energieministerium zu stürmen. Strom gibt es immer nur ein paar Stunden im Land, wenn überhaupt. Benzin wird rationiert. Hinzu kommt eine galoppierende Inflation und – nicht zu vergessen – die Corona-Pandemie.


​Hizbollah gleichzeitig reich und arm

In dieser katastrophalen Lage hat die schiitische Hizbollah-Miliz als Staat im Staate einen zunehmend schwierigen Stand. Vor allem christliche Stimmen verlangen, dass die Hizbollah endlich abrüstet und sich nicht mehr in die Angelegenheiten des Staates einmischt. Als Hizbollah-Kämpfer bei den vielen Protesten der letzten Monate gewaltsam gegen die verzweifelten Bürger vorgegangen waren, schaffte das der Miliz von Hassan Nasrallah keine Sympathien. Gleichzeitig wächst die Wut gegen die Schiiten, weil zum Beispiel in Dahyeh, dem Stadtteil Beiruts, wo auch das Hauptquartier der Hizbollah liegt, die Lage stabiler als anderswo ist. Und: Die Hizbollah verhinderte, dass Diab mit dem IWF spricht, da sie fürchtet, Geld würde auch an politische Bedingungen geknüpft sein, die die Macht der Schiiten schwächen könnten.


Keine Lust auf Eskalation

Auch wenn die Hizbollah im syrischen Bürgerkrieg Kampferfahrung gewinnen konnte, die Israel durchaus für zukünftige Auseinandersetzungen Sorgen bereitet, so ist Syrien dennoch ein problematisches Terrain für die Organisation geworden. Israels Luftwaffe greift ständig iranische Ziele im Land an, ebenso Waffenlager oder -lieferungen der und an die Hizbollah. Das schwächt Irans Einfluss und dessen Versuch, den sogenannten «schiitischen Halbmond» von Iran über Irak und Syrien bis in den Libanon auszudehnen, in dem Hizbollah eine wichtige Rolle zugekommen wäre.

Dennoch versucht Hassan Nasrallah mit Israel eine Rechnung zu begleichen. Bei einem israelischen Luftangriff in Syrien kam vor kurzem ein Kämpfer der Schiiten-Miliz ums Leben. Nasrallah schwor Vergeltung. Doch schon zweimal in den letzten zehn Tagen scheiterte er an der Wachsamkeit des israelischen Militärs. Zwar war ersichtlich, dass er keine grosse Eskalation wollte – die Wahl des jeweiligen Angriffsortes ebenso wie das Vorgehen wiesen darauf hin. Doch die Spannungen an Israels Nordgrenze dauern an. Israel hat nach dem Versuch von vier Kämpfern in Israel eine Bombe zu «hinterlegen», bei dem diese getötet wurden, einen Luftangriff auf schiitische Stellungen in Syrien als Vergeltung geflogen. Aber dennoch macht Jerusalem klar, dass es keine Eskalation mit der Hizbollah will. Und auch sie dürfte kein Interesse haben, in einen richtigen Krieg mit Israel einzutreten angesichts der Lage im Libanon, insbesondere nach der schrecklichen Explosion im Hafen von Beirut.


Wie New York nach dem 11. September

Unmittelbar nach dem Unglück kamen Befürchtungen und Vermutungen auf, Israel könnte hinter dieser Katastrophe stecken. Doch schnell erklärten ausgerechnet Hizbollah-nahe Medien, dies sei nicht der Fall. Israels schnelle Verneinung, mit der Explosion irgendetwas zu tun zu haben, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass dem wohl wirklich so ist. Denn normalerweise bleibt Israel stumm und sagt nichts, wenn es hinter Angriffen im Libanon oder Syrien steckt. Im Gegenteil, Israel hat sofort «medizinische und humanitäre sowie sofortige Nothilfe» angeboten. Ganz offensichtlich wird der verfeindete Nachbar in Libanons Hauptstadt auch nicht verdächtigt, verantwortlich zu sein. Kein libanesischer Politiker hat bislang Israel irgendeine Schuld zugewiesen. Nach derzeitigem Wissensstand handelt es sich tatsächlich um ein Unglück aufgrund von Fahrlässigkeit. Im Hafen waren fast 3000 Tonnen Ammoniumnitrat gelagert. Warum und wieso, das will die Regierung schnellstens aufklären.

Beirut schaut am Tag nach dem Unglück aus wie New York nach 9/11. Die Verwüstung ist immens, die Zahl der Todesopfer und Verletzten steigt und steigt. In dieser Situation dürfte die militärisch-politische Lage im Spannungsfeld zwischen Israel und dem Iran ruhig bleiben. Vorerst. Der Libanon aber steht am Abgrund. Und wenn nicht rasche Hilfe für die notleidende Bevölkerung kommt, wenn das Land wirtschaftlich nicht auf die Beine kommt, dann allerdings ist dies auch aussenpolitisch ein Grund zur Sorge. Ein instabiler Libanon wäre für Israel auf Dauer ein riesiges Problem an seiner Nordgrenze. Das hat der Bürgerkrieg in Syrien bereits gezeigt. Der Krieg im Inneren eines arabischen Nachbarn gibt Israel nur für kurze Zeit eine gewisse Ruhe, ja schlimmer noch: Dort, wo es keine staatlichen Strukturen mehr gibt, gibt es keinen echten Adressaten im Falle eines Angriffs auf Israel. Und das fördert die Gefahr von asymmetrischen Kriegen, die für eine reguläre Armee immer problematisch sind.

Foto:
Die Explosion vom 4. August verwüstete nicht nur den Hafen von Beirut, sondern die ganze Hauptstadt auf einen Schlag
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 7. August 2020