rainer forstBeitrag von Rainer Forst am 2. September 2020 in der Paulskirche

Rainer Forst

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sehr geehrte Frau Stadträtin Eskandari-Grünberg, verehrte Frau Mertens, liebe Jutta Allmendinger, sehr geehrter Herr Mann, sehr geehrte Damen und Herren, ich beginne mit einem Wort des Dankes für die Ehre, die Sie mir mit der Einladung erweisen, hier in so illustrem Kreise zu sprechen. Die Paulskirche ist
der Ort der Demokratie in Deutschland, sowohl ihrer Tragik als auch des fortwährenden Bestrebens, dass sie gelingen möge. Sie ist zudem der Ort, wo Thomas Mann vor 71 Jahren, an Goethes zweihundertstem Geburtstag, den Goethepreis entgegennahm.

In seiner Rede antwortete er auf die Kritik, die ihm wie vielen anderen Emigrant*innen auch entgegenschlug, sich aus der sicheren Ferne gegen das eigene Land gewandt zu haben, und sie macht in unverwechselbaren Worten klar, was auch seine berühmten Radioansprachen während des Krieges zeigen: Dass sein Zorn und seine Abscheu dem
nationalsozialistischen Regime und seinen Verantwortlichen galten, er dabei aber die Hoffnung nie aufgab, Deutschland möge seinen Weg zurück in die Gemeinschaft der friedlichen und demokratischen Staaten finden.

Wir sind noch immer Teil dieser Geschichte, haben aber das Glück, in einer anderen Zeit als der zu leben, in der Thomas Mann in die Zerrissenheit gezwungen wurde, den Untergang des Nationalsozialismus, nicht aber Deutschlands zu wünschen. Nach wie vor gilt aber, was er 1938 in dem Vortrag über den „Zukünftigen Sieg der Demokratie“, seinem ersten für ein amerikanisches Publikum, schrieb: „Es gibt keinen Besitz, der Nachlässigkeit vertrüge. Selbst physische Dinge sterben ab, gehen ein, kommen abhanden, wenn man sich nicht um sie kümmert, wenn sie Blick und Hand des Besitzers nicht mehr spüren und er sie aus den Augen verliert, weil ihr Besitz ihn allzu
selbstverständlich dünkt.“ Das gelte auch für die Demokratie, die „kein gesichertes Gut“ sei und daher „Selbstbesinnung“, „Wiedererinnerung“ und „Bewußtmachung“ benötige.

Eine extreme Vernachlässigung nennen wir Verwahrlosung. Die Verwahrlosung der Demokratie, über die ich sprechen will, ist etwas anderes als das Verkümmernlassen einer Pflanze. Sie ist eine Selbstvernachlässigung, denn Subjekt und Objekt davon sind wir selbst: Wir achten nicht mehr genug auf die spezifisch demokratische Form unserer politischen Ordnung, aber auch unseres gesellschaftlichen Lebens, denn die Demokratie ist nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform. Sie ist zuallererst eine Denkform, denn sie erfordert eine bestimmte Haltung zu sich und anderen.

 Mit „Verwahrlosung“ der Demokratie meine ich Prozesse des Verkommenlassens, die von innen stammen, die aus einem falschen, aber verbreiteten Demokratieverständnis herrühren und dabei blind machen für den Übergang der Demokratie ins Autoritäre, also für eine Verkehrung, in Frankfurt sagt man: eine Dialektik der Demokratie. Solche immanente Verwahrlosung zeigt sich daran, dass die Begriffe verrutschen – und es etwa die Möglichkeit „illiberaler Demokratie“ geben soll oder jemand „Wir sind das Volk“ ruft und eigentlich die Unmenschlichkeit propagiert. Mit Thomas Mann gesagt, sind es solche „gestohlenen Worte“, für die wir ein Sensorium brauchen. 

Beginnen wir mit einer kurzen Reflexion darauf, was Demokratie heißt. Sie ist ihrer Idee nach eine normative Ordnung, in der diejenigen, die Gesetzen unterworfen sind, zugleich die Autoritäten sind, über diese Gesetze im Modus öffentlicher Rechtfertigung zu befinden. Alle Bürger*innen gemeinsam bleiben auch dann oberste Gesetzgeber, wenn sie Repräsentant*innen autorisieren, diese Funktion zu erfüllen. Die Demokratie ist dabei keine Schönwetterveranstaltung, sondern stets im Konflikt: im Konflikt mit den Gewalten, die sie überwinden muss, um diese anspruchsvolle Idee auch nur annäherungsweise zu verwirklichen – klassisch gesprochen, der Feudalismus, das Patriarchat oder die Klassenherrschaft. Sie kämpft beständig gegen die Kräfte, die dem Ziel entgegenstehen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Mitglieder einander als Gleiche begegnen und Ungleichheiten insbesondere vor denen gerechtfertigt werden müssen, die am schlechtesten abzuschneiden drohen.

Auf dem Wege der Realisierung der Demokratie ist das Mehrheitsprinzip, das sich gegen die Herrschaft der Wenigen wendet, essenziell. Aber es schlägt in sein Gegenteil um, wenn dies zu neuer Klassenherrschaft führt, und sei es die der vielzitierten „Mittelklasse“, die die Armut anderer nicht mehr kümmert, solange sie selbst zu profitieren glaubt. Die Ignoranz gegenüber der Lebenslage derer etwa, die ihr Kind nicht auf eine Klassenfahrt mitschicken können, ist ein deutliches Zeichen der sozialen Verwahrlosung in einer Demokratie. Eine begriffliche Trennung von Demokratie und Gerechtigkeit ist ihr theoretischer Ausdruck.

 In Deutschland ist das Wort „Volk“ als Übersetzung für „demos“ historisch belastet. Die Herrschaft des Volkes über sich selbst, ein emanzipatorischer politischer Anspruch, kann so verkommen zur Vorherrschaft derer, die „wirklich“ Deutsche zu sein meinen, denen gegenüber, die vermeintlich nicht richtig dazugehören oder nur geduldet sind. Die „Nation“ wird zur ethnischen Familie, sie schließt sich ab und andere aus. Wie lange noch müssen sich Menschen mit türkischstämmigen Namen in deutschen Amtsstuben und Firmen wegducken, wenn sie einen Anspruch haben? Solche Exklusion erhält besonders im Westen der Bundesrepublik nicht selten eine religiöse Pointe, der zufolge die Demokratie recht verstanden christliche Wurzeln habe und die den Islam als demokratieunverträglich auf die Plätze des Nachsitzens verweist. Und wer sich die Exzesse der Brutalität vergegenwärtigt, die aus dem Umfeld vermeintlich „patriotisch“ Gesinnter auf Asylsuchende oder einfach „Ausländer“ zielen, der versteht, wieso Thomas Mann 1945 den Deutschen eine ungute Tradition der „völkischen Rüpel-Demokratie“ bescheinigt, aufbauend auf dem Missverständnis, Freiheit heiße, das Recht zu haben, „deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes“. Der völkische Demosbegriff,bis hin zur Xenophobie und zum Rassismus gesteigert, ist ein die Demokratie in die extreme Verwahrlosung treibendes Gedankengift. Wie die Geschichte der USA bis in die jüngste Gegenwart hinein zeigt, prägt der Rassismus aber auch dort, wo die „Nation“ ganz anders entstand, die Strukturen einer Gesellschaft nachhaltig; die Wunde der einstigen Sklaverei verheilt nicht.


Nicht minder bedenklich ist die spiegelbildliche Verwahrlosung auf Seiten von Eliten, die sich vom sogenannten „Pöbel“ abwenden und die Reproduktion ihrer Privilegien nicht nur geschickt sichern, sondern sich auch dafür rühmen, das Niveau der Gesellschaft zu heben und zu schützen. Es gibt kaum eine existierende Demokratie, in der sich nicht solche Blasen der Abgehobenheit finden, die den Rufen nach Demokratisierung der Gesellschaft und der Rechtfertigungsbedürftigkeit extremen Reichtums so elegant aus dem Weg zu gehen vermögen. 

Die Elitenkritik wird aber aufs falsche Gleis geleitet, wenn sie nicht zwischen ihrer Berechtigung durch marginalisierte soziale Gruppen einerseits und andererseits der Niedertracht derjenigen unterscheidet, die etwa die Entscheidung der Aufnahme von Flüchtenden 2015 als „undemokratisch“ geißeln und doch nur meinen, dass diese Leute hier nichts zu suchen haben - und damit zeigen, dass ihnen Menschenrechte gleich sind. Die Klage Unterprivilegierter ist demokratisch unabdingbar, der blinde Hass aber auf Gruppen, die noch weniger Privilegien haben, denen man solche aber andichtet, drückt schiere Menschenverachtung aus.


Der Begriff der Demokratie verrutscht, wenn sie als voluntaristisches Instrument der Mehrheitsmacht verstanden wird und nicht selbst mit Grundrechten, die die Gleichheit aller sichern, verknüpft wird, so dass sie durchaus „illiberal“ agieren könne. Und er kommt auch dort auf die schiefe Bahn, wo diese Gleichheit nicht mehr als Gerechtigkeitsimperativ ernstgenommen wird, ob von denen „oben“, in der „Mitte“ oder „unten“. Und dort, wo der demokratische Streit verroht zur unerbittlichen Feindschaft, zur Lüge und Tatsachenverdrehung bis hin zur Leugnung des Klimawandels oder der Existenz eines Virus mit entsprechenden Verschwörungstheorien.

Man muss kein Dialektikdiplom in der Tasche haben, um zu verstehen, dass in Zeiten, in denen immer mehr politische und ökonomische Handlungsmacht von Staaten verloren geht, weil die „Gesetze“ des globalen Marktes sich nicht an nationale Spielregeln halten, politische Kräfte populär werden, die ein „take back control“ oder „make America great again“ versprechen. Der globale kapitalistische Darwinismus soll nicht gezähmt werden, vielmehr wünscht man sich einen besseren Platz in diesem Spiel. Hier erzeugt eine strukturelle Krise der nationalstaatlichen Demokratie eine Gegenreaktion, die sich mit Verwahrlosungstendenzen der beschriebenen Art verknüpft, etwa  indem 
Migrant*innen zu Symbolen für globale Bedrohungen gemacht werden, gegen die nur hohe Mauern helfen.


Thomas Mann, den Nationalsozialismus, Emigration und Krieg zu einem engagierten Weltbürger gemacht hatten, wies hellsichtig darauf hin, dass die Zukunft der Demokratie nicht nur in einer „sozialen“ Demokratie liege, die sich der sozialen Gerechtigkeit verschreibt, sondern auch einen „übernationalen“ Charakter der Demokratie erfordere: „Weltökonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen (...), das Erwachen der Menschheit zum Bewußtsein ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins-Auge-fassen des
Weltstaats – wie sollte all dieser über die bürgerliche Demokratie hinausgehende soziale Humanismus, um den das große Ringen geht, dem deutschen Wesen fremd und zuwider sein?“ Mit diesen Worten aus dem Essay über „Deutschland und die Deutschen“ von 1945 schließe ich. Und erinnere noch einmal daran, dass die Verwahrlosung der Demokratie unser eigenes Versagen ist. Niemand wird und kann sie verhindern, wenn wir es nicht selbst tun, mit klaren Begriffen und Urteilen, mit dem Mut zur Vernunft.

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© aktuelles.uni-frankfurt.de, Uwe Dettmar