Yves Kugelmann
Berlin (Weltexpresso) - Berlin, im September 2020. «Alles brennt. Alles ist so schrecklich», schreibt Farhad Dienstagnacht und sendet ein Video der brennenden Hütten und flüchtenden Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Das letzte gemeinsame Treffen fand im Juli beim Lager statt, als bereits Ausgangssperre wegen Corona verfügt war. Der Rest ist bekannt: Die Flammen von Moria waren ein letzter Hilfeschrei von rund 15 000 gefangenen und mittlerweile internierten Flüchtlingen an die Welt .
An jene Welt, die einst sagte: «Wir haben nichts gewusst». Nun wissen wieder einmal alle alles. Etwa seit 2015, als Menschen mehrheitlich vor einem Mordregime in Syrien flüchteten. Alles ist anders und doch so gleich. Seit dem Feuer ist die Öffentlichkeit wieder kurz empört, die Politik ist überfordert und Flüchtlinge vegetieren auf Griechenlands Strassen bevor sie in ein nächstes Lager kommen. Die europäische Bürokratie und Handlungsunfähigkeit wird weitere Menschen töten. Alles ist anders und doch so gleich.
Nein, da ist kein nationalsozialistisches Regime, da ist keine ethnische Säuberung in Deutschland. Doch da sind bedrohte Menschen, Flüchtlinge, die anklopfen und ignoriert bleiben. «Alles brennt. Alles ist so schrecklich» sind die Worte des afghanischen Jungen, der seinen zurückgelassenen Eltern versprochen hat, auf seine jüngere Schwester aufzupassen. Vor vier Tagen hat er einmal mehr einen negativen Bescheid der griechischen Behörden auf seinen Asylantrag erhalten. Seine Schwester darf bleiben – und die beiden werden wohl getrennt durch das Schicksal. Seit Dienstagnacht ist der Kontakt abgebrochen. Ist Farhad verletzt? Hat er keinen Strom, kein Netz, kein Handy mehr? Lebt er noch? – Fragen in der Nacht beim Spaziergang durch Berlin Mitte über Pflaster-, Stolper- und letztlich Mahnsteine.
«Hier wohnte Elvira Niegio.» «Hier wohnte Rahel Regina Schwarz.» Und so fort. Ein bizarrer Gang durch die Geschichte einer Gesellschaft, die irgendwann bereit ist, sich zu erinnern, aber doch nicht alles tut, um Leben zu retten.
«Es brennt! Brüder, ach, es brennt! / Oh, unser armes Städtchen, wehe, brennt! / Feuerstürme jagen, gieren, / reissen, brechen und entfachen / stärker noch die wilden Flammen, / schon alles ringsum brennt! / Und ihr steht und guckt und gafft nur, / mit verschränkten Händ’, / und ihr steht und guckt und gafft nur – /unser Städtchen brennt!»
Das schrieb der Dichter Morderchai Gebirtig 1936. Das Lied wurde später die Hymne der jüdischen Widerstandskämpfer in Ghettos und Wäldern. Im Sommer 2020 brennt es wieder, die Welt gafft immer noch – und die Parole «Nie wieder!» bleibt Hohlglanz einer Politik, die nicht verstanden hat, dass «Nie wieder Auschwitz» nie wieder Ablehnung von Menschen in Not bedeuten müsste – und vieles mehr.:
Foto:
Familien flüchten Dienstagnacht vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
© tachles
Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JMAG.
«Hier wohnte Elvira Niegio.» «Hier wohnte Rahel Regina Schwarz.» Und so fort. Ein bizarrer Gang durch die Geschichte einer Gesellschaft, die irgendwann bereit ist, sich zu erinnern, aber doch nicht alles tut, um Leben zu retten.
«Es brennt! Brüder, ach, es brennt! / Oh, unser armes Städtchen, wehe, brennt! / Feuerstürme jagen, gieren, / reissen, brechen und entfachen / stärker noch die wilden Flammen, / schon alles ringsum brennt! / Und ihr steht und guckt und gafft nur, / mit verschränkten Händ’, / und ihr steht und guckt und gafft nur – /unser Städtchen brennt!»
Das schrieb der Dichter Morderchai Gebirtig 1936. Das Lied wurde später die Hymne der jüdischen Widerstandskämpfer in Ghettos und Wäldern. Im Sommer 2020 brennt es wieder, die Welt gafft immer noch – und die Parole «Nie wieder!» bleibt Hohlglanz einer Politik, die nicht verstanden hat, dass «Nie wieder Auschwitz» nie wieder Ablehnung von Menschen in Not bedeuten müsste – und vieles mehr.:
Foto:
Familien flüchten Dienstagnacht vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
© tachles
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Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JMAG.