Andreas Mink
New York (Weltexpresso) - Der Tod der Verfassungsrichterin kommt zu einem politisch denkbar brisanten Zeitpunkt und wirbelt den ohnehin turbulenten Wahlkampf in der Endphase auf.
Kurz nach Beginn von Rosh Haschana ist gestern Abend im Kreis ihrer Familie Ruth Bader Ginsburg in Washington verstorben. Die Verfassungsrichterin wurde 87 Jahre alt. Angehörige gaben als Ursache Folgen eines in Metastasen ausgebrochenen Krebsleidens am Pankreas an. Kurz vor ihrem Tod hat sie ihrer Enkelin Clara Spera Wunsch diktiert: «Mein leidenschaftlichster Wunsch ist, dass ich nicht vor Einsetzung eines neuen Präsidenten ersetzt werde» (Link). Der republikanische Mehrheitsführer im Senat Mitch McConnell hat jedoch kaum eine Stunde nach ihrem Tod mitgeteilt, dass er baldmöglichst über einen von Präsident Trump nominierten Nachfolger wird abstimmen lassen. Damit sind in den letzten sechs Wochen vor den Präsidentschaftswahlen schwere Turbulenzen bis hin zu landesweiten Massenprotesten vorprogrammiert.
Ginsburg hat in einer langen Karriere als Anwältin und ab 1980 zunächst als Richterin am einflussreichen Berufungsgericht in Washington, DC, von 1993 an dann am höchsten Gericht der USA Geschichte vor allem für die Gleichberechtigung von Frauen geschrieben. Am Supreme Court war sie eine prinzipienfeste Progressive, aber stets offen für Argumente und bekannt für ein gutes, persönliches Verhältnis selbst zu ideologischen Kontrahenten wie Antonin Scalia. Mit diesem verband sie auch eine Leidenschaft für Opern. Bei jungen Frauen galt sie seit einigen Jahren als Ikone des Feminismus, was ihr den Spitznamen «RBG» eintrug.
Die Tochter jüdischer Immigranten aus dem Zaren- und dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich in Brooklyn leidet schon seit gut einem Jahrzehnt an gesundheitlichen Problemen. Ginsburg hat diese jedoch oft verheimlicht und mit einer zur Legende gewordenen, eisernen Disziplin und Fitness-Übungen bekämpft. Noch vor drei Wochen hat sie ihre Richterwürde zur Trauung einer jungen Verwandten eingesetzt.
Ihr Tod so kurz vor den Wahlen hat ebenso immense, wie schwer überschaubare, politische Dimensionen. Donald Trump und der republikanische Fraktionschef Mitch McConnell haben nun die Möglichkeit, einen weiteren Stuhl am Supreme Court mit einem konservativen Ultra zu besetzen. McConnell hat seine Absicht dazu bereits vor Wochen signalisiert. Damit entfacht er nicht zuletzt die Begeisterung der evangelikalen Parteibasis.
Das Verfassungsgericht hätte dann eine solide Mehrheit von sechs zu drei Konservativen. Diese könnten die Arbeit einer allfälligen Biden-Regierung erheblich erschweren. Eine kurzfristige Aktion dieser Art wäre einzigartig und ein flagranter Bruch mit einem Beispiel, das McConnell selbst gesetzt hat. Bekanntlich hat er dem damaligen Präsidenten Barack Obama im März 2016 fast ein Jahr lang die Berufung des moderaten Richters Merrick Garland an den Supreme Court erwehrt. Nur deshalb konnte Donald Trump dann 2017 den erzkonservativen Neil Gorsuch einsetzen. Obama hatte nach seiner Wiederwahl 2012 vergeblich versucht, Ginsburg zum Rücktritt zu bewegen, um eine progressive Nachfolgerin ernennen zu können. 2014 verloren die Demokraten dann ihre Senatsmehrheit.
Spannend wird zunächst das Verhalten der Handvoll republikanischer Senatorinnen und Senatoren sein, die Trump noch eine Spur von Skepsis entgegen bringen. Lisa Murkowski aus Alaska hat jüngst erklärt, sie würde bis zum Beginn der neuen Legislaturperiode im Januar 2021 nicht mehr über einen Sitz am Verfassungsgericht abstimmen. Offen ist momentan, wie sich Mitt Romney aus Utah, vor allem aber Susan Collins aus Maine verhalten: Sie wurde für ihre Unterstützung der von Trump nominierten Richter Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh kritisiert. Diese signalisierten seither Bereitschaft, etwa das Recht auf Abtreibung auszuhebeln. Collins muss auch deshalb im laufenden Wahlkampf um ihren Sitz bangen.
Foto:
Ruth Bader Ginsburg (1933-2020)
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. September 2020
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. September 2020