Die jüdische Gemeinschaft hatte in den ersten acht Wochen überdurchschnittlich viele Covid-Patienten zu beklagen – ein Blick auf die weltweite Situation
Jaschar Dugalic
Tel Aviv (Weltexpresso) - Gemäss dem Coronavirus-Forschungszentrum der John Hopkins Universität starben weltweit bis zum 28. Oktober 1 167 817 Menschen an oder mit dem SARS-CoV-2 Virus, Tendenz steigend. Bereits während der ersten Coronawelle, seit Februar, gab es aus verschiedenen Ländern Berichte darüber, dass spezifische Gruppen überdurchschnittlich hart vom Virus getroffen wurden – darunter auch die jüdischen Gemeinschaften vor allem in Israel, USA und Zentren in Europa.
Keine genauen Daten verfügbar
Über genaue Zahlen der Infektionen und Todesfälle verfügt niemand. Dies gilt auch für die jüdische Gemeinschaft. Zwar bezifferte Isaac Herzog, Vorsitzender der Jewish Agency for Israel, die weltweite Anzahl jüdischer Covid-19-Todesopfer Anfang Juli auf 2200 – jedoch ohne jene in den USA und ehemaligen Sowjetstaaten. Woher diese Zahl stammt und wie sie auf Staaten verteilt ist, konnte die Jewish Agency gegenüber tachles nicht erklären, «wir verfügen leider über keine Aufschlüsselung dieser Daten nach Ländern», heisst es dort. Andere jüdische Dachverbände tappen dabei ebenfalls im Dunkeln. Der Zentralrat der Juden in Deutschland erklärt: «Leider liegen uns dazu keine Zahlen vor.» Die jüdischen Gemeinden seien autonom, solche Zahlen würden nicht gemeldet werden. Gleich auch der European Council of Jewish Communities (ECJC). Selbst das Zentrale Statistikbüro Israels führt öffentlich keine Statistik darüber, wie viele der mittlerweile 2483 Todesopfer in Israel jüdisch sind.
Großbritannien und Frankreich überproportional betroffen
Zwei europäische Länder, deren jüdische Gemeinden von der ersten Covid-19-Welle besonders stark getroffen wurden, sind das Vereinigte Königreich, das heute mit knapp 45 000 Toten den traurigen europäischen Rekord hält, und Frankreich. In England und Wales betrug die Inzidenz der Todesfälle pro 100 000 Einwohner für den Zeitraum vom 2. März bis zum 15. April im Durchschnitt bei christlichen und konfessionslosen Männern 92 respektive 85 Todesfälle, für Frauen dieser Religionsgruppen waren es 54 und 49. Diese Werte lagen bei anderen Glaubensrichtungen, darunter auch Jüdinnen und Juden, deutlich höher. Bei jüdischen Männern starben auf 100 000 Personen 187, bei den Frauen waren es 94. Einzig die muslimische Bevölkerung Englands und Wales wies höhere Werte auf. Von der Gesamtzahl der Covid-19-Todesopfer der ersten Welle machten die jüdischen mit 453 Verstorbenen 1,2 Prozent aus – mit den aktuellen Zahlen 1,18 Prozent. Dies bei einem Gesamtbevölkerungsanteil von weniger als 0,5 Prozent. Für den 23. Oktober berichtet das Board of Deputies of British Jews (BoD), die bedeutendste Körperschaft der britischen Juden, von 534 jüdischen Personen, die an Covid-19 verstarben. Das BoD bezieht sich dabei auf Informationen britischer Bestattungsbehörden der jüdischen Gemeinden, der regionalen jüdischen Gemeinden und des Jewish Small Communities Network.
In Frankreich scheint die Situation drastischer. Gemäss Medienberichten sind bis Mitte Mai mindestens 1300 Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich an Covid-19 verstorben. Schätzungen gehen jedoch von über 2000 Todesopfern aus, da die Daten von französischen Bestattungsbehörden stammen, ein grosser Teil der Verstorbenen jedoch in Israel bestattet worden sei. Die jüdische Gemeinschaft in Frankreich zeigte sich irritiert darüber, dass Todesfälle nach Religion aufgeteilt werden. «Diese Zahlen sollte es nicht geben. Wir leben in einer laizistischen Republik, in der es keine Unterschiede in Spitälern zwischen einem Israeliten und einem Nichtjuden gibt. Von strikt jüdischen Zahlen zu sprechen, wäre folglich eine Häresie», so Rabbiner Aimé Atlan in einem Interview mit dem israelischen TV-Nachrichtensender i24. Auch der Oberrabbiner Hay Krief vom Consistoire in Paris möchte auf die Anfrage von tachles keine Angaben zu genauen Zahlen machen. Weder sei man in deren Besitz, noch hielte er es für angebracht, diese aufzulisten. Die verfügbaren Ziffern zeigen jedoch klar auf, dass die jüdische Gemeinschaft in Frankreich, zumindest während der ersten Coronawelle, eine der am härtesten getroffenen Europas war. Schon bei den 1300 gemeldeten Covid-19-Todesopfern ist man bei fünf Prozent der zu diesem Zeitpunkt in Frankreich erfassten 25 900 Covid-19-Todesfällen. Bei einem Vergleich mit den Zahlen aus Grossbritannien – zu dem Zeitpunkt waren dort 372 Todesfälle bekannt – zeigt sich: Bei doppelter jüdischer Bevölkerung verzeichnet man das Dreifache an Todesopfern. Werden die Schätzungen von über 2000 jüdischen Covid-19-Todesopfern herbeigezogen, steigt der Wert auf das Fünffache. Dabei stellt die jüdische Bevölkerung in Frankreich – dem Land mit der grössten jüdischen Gemeinschaft in Europa – etwas weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Da die Zahlen grösstenteils von Bestattungsbehörden stammen, wurden nur Personen erfasst, die nach jüdischem Glaubensritual bestattet wurden. Alle anderen Jüdinnen und Juden, die dem Virus erlagen, fehlen, was zu einer unbekannten Dunkelziffer führt.
Erklärungen und Hintergründe
Der Demografieexperte für Judentum und emeritierte Professor der Hebräischen Universität in Jerusalem Sergio DellaPergola erklärt die hohe Inzidenz gegenüber tachles: «Die Muster sind je nach Land sehr unterschiedlich. In der Tat war die Inzidenz unter Juden in Frankreich und im Vereinigten Königreich überdurchschnittlich hoch, während sie anderswo, wie in Italien oder Mexiko, niedriger war.» Eindeutige Erklärungen gibt es gemäss DellaPergola nicht: «Zum Teil ist die hohe Inzidenz auf Zufälle zurückzuführen, beispielsweise wenn in einem jüdischen Altersheim ein sogenannter Infektionscluster entstand. Grundlegender ist jedoch, dass die hohen Werte häufige soziale Interaktionen zwischen bestimmten jüdischen Kreisen und teils auch mangelnde Disziplin erkennen lassen.» Anzeichen für mangelnden Respekt vor behördlichen Massnahmen gebe es beispielsweise in Israel in bestimmten sehr religiösen Kreisen. Dadurch wurde aus Israel, das zu Beginn der Pandemie weitgehend verschont blieb, eines jener Länder, die am meisten betroffen sind. «In Israel nimmt die Infektionskurve nun wieder ab, und es ist möglich, dass die Restriktionen aufgehoben werden – woraufhin die Infektionen wieder ansteigen werden», so DellaPergola weiter.
Ein Muster ist global erkennbar. Jüdische Gemeinschaften befinden sich häufig in urbanen Zentren. Wurden in solchen Ballungszentren keine strikten Schutzvorkehrungen und Einschränkungen getroffen, konnte sich das Virus rasch ausbreiten. So etwa in den jüdischen Stadtvierteln New Yorks. Gemäss der Statistik des Gesundheitsdepartements der Stadt decken sich die Postleitzahlen derjenigen Nachbarschaften mit den höchsten Ansteckungsraten mit jenen, in denen grosse jüdische Gemeinschaften leben. Auch in Frankreich lebt ein Grossteil der jüdischen Gemeinschaft in Paris oder Strassburg. In Argentinien sind die meisten Jüdinnen und Juden in Buenos Aires – dem Epizentrum der Pandemie während der ersten Welle – wohnhaft. In Mexiko, wo das Gros der ca. 50 000 Juden in oder um Mexiko Stadt lebt, wurden vom dortigen Zentralkomitee der jüdischen Gemeinden alle Anlässe bereits Mitte März abgesagt und jüdische Schulen geschlossen. Die drakonischen Massnahmen führten dazu, dass die jüdische Gemeinschaft in Mexiko Stadt zwei Monate später nur zwei Covid-19-Todesfälle verzeichnen musste.
Schweiz noch im Rahmen
In der Schweiz scheint die Situation weit weniger dramatisch. Gemäss Recherchen von tachles sind von den jüdischen Gemeinden und Altersheimen lediglich vier Fälle bekannt, bei denen Personen an oder mit Covid-19 verstarben, wobei auch hier einige Fälle nicht erfasst sein dürften, da Teile der jüdischen Gemeinden mit den Todesfällen äusserst diskret umgehen und diese nicht kommunizieren möchten. Auch dem Verband der Jüdischen Fürsorgen der Schweiz (VSJF) sind glücklicherweise bis anhin keine Todesfälle unter den Klienten, die ausserhalb der Gemeinden betreut werden, bekannt, wie die VSJF-Präsidentin Gabrielle Rosenstein und der Leiter der Sozialdienste Eran Simchi gegenüber tachles mitteilen. Wird von vier Covid-19-Todesfällen in der jüdischen Schweiz ausgegangen, so wären dies 0,2 Prozent der am 28. Oktober vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestätigten 1954 Todesfälle. Somit wäre der jüdische Anteil der Todesfälle in der Schweiz im gleichen Verhältnis wie jener an der Gesamtbevölkerung. Dazu beigetragen haben dürften die strikten Schutzkonzepte von Gemeinden wie auch Alterspflegeheimen. So hat etwa das Alterszentrum Hohlbeinhof in Basel keine Infektionen geschweige denn Todesfälle verzeichnen müssen, wie Richard Studer, Leiter Pflege beim Hohlbeinhof, auf Anfrage von tachles verlauten lässt. Auch von Seiten der Gemeinden wird gegenüber tachles eine strikte Umsetzung von Schutzkonzepten und Sicherheitsmassnahmen betont. Die Israelitische Gemeinde Winterthur konnte so vor Kurzem noch eine Bar Mizwa mit strengem Schutzkonzept durchführen, in deren Nachgang keine Infektionen vermeldet wurden.
Durchschnittliche Mortalität
Darüber, wie tödlich eine Covid-19-Infektion ist, wird selbst in der Wissenschaft debattiert. In seiner am 20. Oktober im Bulletin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichten Studie stellt John Ioannidis, Professor für Medizin und Epidemiologie an der Stanford University, fest, dass die Infektionssterblichkeitsrate von Covid-19 dazu tendiere, «viel niedriger zu sein als die Schätzungen, die zu einem früheren Zeitpunkt der Pandemie gemacht wurden». In der Wissenschaft wird zwischen der Infektionssterblichkeit (IFR) und der Fall-sterblichkeit (CFR) unterschieden. Rechnet man den Prozentsatz aller Covid-19-Todesfälle im Verhältnis zu den erfassten Fällen aus, so ergibt sich die CFR. In der Schweiz liegt dieser Wert für den 28. Oktober, mit 1954 Todesfällen und 135 658 bestätigten Infektionen, bei 1,44 Prozent. Bei der IFR geht es jedoch darum, auch symptomfreie oder aus anderen Gründen nicht erfasste Infektionen in die Rechnung einzubeziehen. Unter Einbezug dieser Dunkelziffer an Infektionen kommt Ioannidis auf einen Wert, der im Mittel bei 0,23 Prozent liegt. Auf eine mangelhafte Datenerhebung verweist auch Sergio DellaPergola. Er kritisiert, dass die Messung der Häufigkeit von Neuinfektionen auf der Grundlage der gemessenen Infektionen erfolge und nicht auf jener einer Zufallsstichprobe unter der Bevölkerung. Dies erzeuge eine Verzerrungen bei der Messung. Wie hoch die Sterblichkeitsrate innerhalb der jüdischen Bevölkerung liegt, kann daher nur schwer gesagt werden, denn hierfür bräuchte es nebst den exakten Zahlen der Todesfälle auch jene der bestätigten sowie nicht bestätigten Infektionen. Und über diese verfügt derzeit keine der grossen jüdischen Organisationen. Im Moment arbeitet ein Team des Instituts for Jewish Policy Research (JPR) unter der Leitung von Daniel Staetsky an einem Bericht über den Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die jüdischen Gemeinschaften Europas; dieser wird voraussichtlich in einigen Wochen erscheinen.
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In Verbindung mit der Pandemie ist das Bild orthodoxer Juden als Darstellung richtig; sie beklagen die grössten Opferzahlen von Covid-19
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 30. Oktober 2020