Staatsleistungen an die KircheGibt es zivil- und strafrechtliche Privilegien für Kirchenleute?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – In der Bundesrepublik regelt das Kirchenrecht das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen.

Dies ergibt sich aus Artikel 140 des Grundgesetzes, der die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung (Weimarer Reichsverfassung) vom 11. August 1919 zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt.

Die von Klaus Jürgen Schmidt in „Weltexpresso“ aufgeworfene Frage, ob es beim Strafrecht zweierlei Maß gibt, nämlich eines für katholische Kleriker bzw. evangelische/reformierte Pastoren und eines für Normalbürger, ist zu verneinen (https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/20464-was-darf-die-kiche). Denn Artikel 136, Absatz 1 (der Weimarer Verfassung) ist eindeutig: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“. Und in Absatz 2 heißt es: „Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.“

Problematischer im Hinblick auf die Wirklichkeit der säkularen Bundesrepublik Deutschland erscheint mir die bisher nicht erfolgte Einlösung von Artikel 137, Absatz 1: „Es besteht keine Staatskirche“. Die Nichtumsetzung dieser Verfassungsnorm in die Verfassungswirklichkeit scheitert anscheinend an Formalien, die sich aus Absatz 3 ergeben: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes...“. Der nachfolgende Absatz 4 liefert dann aber weitere Argumente, um die kirchliche Existenz zwischen Welt und Halbwelt endgültig zu beenden: „Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes.“

Die am 31. Juli 1919 in Weimar tagende Nationalversammlung verabschiedete zwar mit großer Mehrheit (262 Ja-Stimmen zu 75 Gegenstimmen) die neue demokratische Verfassung, sie ging jedoch nicht so weit, eine vollständige Trennung von Staat und Kirche durchzusetzen. Also den Kirchen jene Privilegien wieder abzuerkennen, die diesen nach dem Ende der napoleonischen Zeit erneut zugestanden worden waren. So blieben Religionsgemeinschaften, die bislang Körperschaften des öffentlichen Rechts waren, dies auch weiterhin (Artikel 137, Absatz 5). Auch das Recht der Kirchen, auf der Grundlage „bürgerlicher Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben“ (Absatz 6) blieb unangetastet.

Als nach wie vor nicht realisiert gilt Artikel 138, Absatz 1, der die Ablösung von Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften vorschreibt. Die hierzu notwendigen Landes- und Bundesgesetze gibt es bis heute nicht. Zu diesen Leistungen zählen die Übernahme der Gehälter von Bischöfen und Kirchenpräsidenten oder der laufende Unterhalt bestimmter Sakralbauten als Entschädigung für die von Napoleon enteigneten Kirchen.

Ein völlig anderes Kapitel hingegen ist die Ausbeutung von Menschen in geschützten bzw. isolierten Bereichen. So scheint bei der flüchtigen Lektüre von Berichten der Boulevardpresse die sexuell motivierte Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen in Kirchen besonders weit verbreitet zu sein. Indirekt wird sogar unterstellt, dass vor allem die Katholische Kirche, aber auch Einrichtungen der evangelischen Diakonie, für derartige Delikte besonders anfällig seien. Populär bis populistisch ist der konstruierte Kausalzusammenhang, dass in einer Organisation, die ihren Amtsträgern Ehe und sexuellen Verkehr verbieten (Zölibat), der Missbrauch von Abhängigen quasi ein Ventil darstellt. Deswegen würden solche Verbrechen unter den Teppich gekehrt und nicht angezeigt. Letzteres dürfte zutreffen.

Das Strafrecht, hier der Paragraf 182 des Strafgesetzbuchs, unterscheidet jedoch nicht zwischen sakralen und säkularen Tätern. Falls ein Kleriker eines Verbrechens überführt und verurteilt wird, folgt eine mehrjährige Haftstrafe. Ob er nach deren Verbüßung wieder ein priesterliches und seelsorgerliches Amt ausüben darf oder in der kirchlichen Verwaltung untertaucht oder sogar exkommuniziert wird, lässt sich schwer feststellen. Nicht belegbar ist, dass die Ermittlungsbehörden die Kirchen verschonen würden oder sich zumindest eine Zurückhaltung auferlegten. Eher ist zu vermuten, dass sie sich aus rein praktischen Gründen schwertun. Denn die kirchlichen Hierarchien sind für Außenstehende schwer zu durchschauen. Und innerhalb jeder pyramidenähnlich gestuften Gruppe herrscht von unten nach oben bekanntlich das große Schweigen. Dadurch fehlen oftmals Zeugen und Beweismittel, nicht zuletzt dann, wenn die Straftaten bereits Jahre zurückliegen. Wenn es zu Strafanträgen gegen Priester und Pastoren oder Heimleiter kam, wurden im Rahmen der Ermittlungen auch Hausdurchsuchungen durchgeführt.

Von gesellschaftlich relevanterer Bedeutung ist der sexuelle Missbrauch von Kindern in deren Bekanntenkreis und in deren familiärem Umfeld. Falsche Rücksichtnahme und Schweigen sind hier üblich. Folglich ist die Beweislage häufig schwierig. Vielfach steht Aussage gegen Aussage. Das führt zu einer hohen Einstellungsquote der Ermittlungsverfahren. Deutschlandweit werden 66 Prozent der Verfahren bei Sexualstraftaten von den Staatsanwaltschaften eingestellt.

Die unter dem Eindruck von geradezu geschäftsmäßig betriebenem Kindesmissbrauch entstandene Diskussion über eine Verschärfung des Sexualstrafrechts scheint mir auf einem Auge blind zu sein. Denn sie spart eine der Vorstufen dieses Missbrauchs, nämlich die Anbahnung von Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern in den so genannten sozialen Netzen, nahezu völlig aus. Pädophile nutzen die altersentsprechende Naivität von Kindern und Jugendlichen, indem sie die von Instagram und Whatsapp ausgelöste Mitteilungsfreudigkeit auch über privateste Dinge für ihre Ziele nutzen.

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Staatsleistungen an die Kirche
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