... gibt’s zu seinem 200. Geburtstag 'was zum Nachdenken

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Eine „Gedenktafel-Initiative“ will am 28. November in der Hansestadt einen „Bremer Jung“ ehren, dort, wo der vor 200 Jahren Geborene vom 11. August 1838 bis Ende März 1841 als „Auszubildender in einem Handelskontor und als freier Journalist“ gewohnt hat. So wird es auf der Tafel nahe des ehemaligen Pfarrhauses der St. Martini-Kirche an einer Mauer des Weserufers zu lesen sein. Sie soll an den Sohn eines Kaufmanns und später berühmt gewordenen Theoretiker des Sozialismus erinnern.


Die Ansprache wird Dr. Johann-Günther König halten, Autor des Buches „Friedrich Engels. Die Bremer Jahre“, erschienen beim Bremer Kellner-Verlag. Ihm ist es zu verdanken, dass der Nachwelt zahlreiche Original-Zitate des späteren Mitstreiters von Karl Marx bekannt bleiben. z.B. dieses hier über den Eindruck des Bremer Azubis Friedrich Engels von den Hanseaten seiner Zeit:

„Im Übrigen ist das hiesige Leben ziemlich einförmig und kleinstädtisch; die haute volée, d. h. die Familien der Patrizier und Geldaristokraten, sind den Sommer über auf ihren Landgütern, die Damen der mittlern Stände können sich auch in der schönen Jahreszeit nicht von ihren Teekränzchen, wo Karten gespielt und die Zunge geübt wird, losreißen, und die Kaufleute besuchen Tag für Tag das Museum, die Börsenhalle oder die Union, um über Kaffee- und Tabakspreise, und den Stand der Unterhandlungen mit dem Zollverband zu sprechen; das Theater wird wenig besucht. – Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt; man ist so ziemlich der Ansicht, dass mit Goethe und Schiller die Schlusssteine in das Gewölbe der deutschen Literatur gelegt seien, und lässt allenfalls die Romantiker noch für später angebrachte Verzierungen gelten. Man ist in einem Lesezirkel abonniert, teils der Mode halber, teils um bei einem Journal bequemer Siesta halten zu können; aber Interesse erregt nur der Skandal und Alles, was etwa über Bremen in den Blättern gesagt wird. Bei vielen der Gebildeten mag diese Apathie freilich in dem Mangel an Muße begründet sein, denn besonders der Kaufmann ist hier gezwungen, sein Geschäft stets im Kopfe zu behalten, und den etwaigen Rest der Zeit nimmt die Etikette unter der meist sehr zahlreichen Verwandtschaft, Besuche etc. in Anspruch.“

Quartier hatte Friedrich Engels gleich gegenüber dem Kontor gefunden, in das ihn sein Vater zur Ausbildung geschickt hatte, im Pastoren-Haus von St. Martini bei „Pastor Georg Gottfried Treviranus (1788-1866) und dessen warmherziger Ehefrau Mathilde (1794-1878)“. Und genau dort soll nun mit einer Gedenktafel an ihn erinnert werden.


... Was würde ein Friedrich Engels runde 180 Jahre später, also im November 2020, an derselben Stelle erfahren, dort bei der St. Martini-Kirche am Bremer Weserufer?

Am 20. November beginnt vor dem Amtsgericht Bremen der Prozess gegen den gegenwärtigen Pastor dieser Kirche. Er ist wegen Volksverhetzung angeklagt. Die Äußerungen, wegen denen Pastor Olaf Latzel vor Gericht stehen wird, sind vor über einem Jahr gefallen – am 19. Oktober 2019 in einem Seminar, überschrieben mit „Biblische Fahrschule zur Ehe“. Und hätten nur die etwa 30 teilnehmenden Paare der als sehr konservativ geltenden St.-Martini-Gemeinde seine Ansicht zu Homosexualität, Gender oder Christopher-­Street-Day gehört, es wäre wohl nie zu diesem Prozess gekommen. Doch es gab eine für jedermann frei zugängliche Audiodatei im Internet auf dem Youtube-Kanal des Pastors. Dort hat Latzel 24.500 Abonnenten, aber die Zahl der Aufrufe seiner Predigten liegt häufig deutlich höher, manchmal über 100.000.

Und was hatte er in seiner „Biblischen Fahrschule zur Ehe“ gesagt? Nicht nur der vollzogene Ehebruch, nein auch das „Reinziehen von Videos auf einem Pornokanal“ oder der eindeutige Flirt mit einer Mitarbeiterin in der Firma sei „genauso todeswürdig und vor Gott ein Gräuel, wie eben gelebte Homosexualität.“ Und „diese Homo-Lobby, dieses Teuflische“ komme immer stärker auf und dränge sich immer mehr ins allgemeine Leben hinein. So werde etwa in den Schulen propagiert, dass Homosexualität normal sei. „Überall laufen diese Verbrecher von diesem Christopher-Street-Day, ...“

Es hat lange gedauert, bis die Bremer Justiz einen Schalter fand, die „Biblische Fahrschule“ des Olaf Latzel zu durchleuchten. Schon vor acht Jahren, gerade zurückgekehrt aus Afrika nach Bremen, war uns Latzel als Hass-Prediger am Weserufer aufgefallen:

E-mail an Pastor & Vorstand
Datum: 26. September 2012

Sehr geehrter Herr Latzel,
dies ist ein Offener Brief, mit dem meine Frau und ich unser Erschrecken über Ihre Worte beim Open-Air-Gottesdienst der Evangelischen St.-Martini-Gemeinde während der Bremer Maritimen Woche am 23.09.2012 zum Ausdruck bringen möchten.
Nach 27 Jahren Leben und Arbeiten in Afrika erinnerte uns Ihr Auftreten an zornige Eiferer missionarischer Pfingstler auf diesem Kontinent. Auch diese teilen aufgrund einer selbstgerechten Auslegung von Bibelworten die Menschheit in „gut“ und „weniger gut“ ein.
Wir haben in Asien, in Lateinamerika, in Afrika Kulturen kennengelernt, die in ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte zu Glaubensüberzeugungen gekommen sind, die weniger arrogant und weniger intolerant sind als das, was Ihre – von uns an jenem Sonntagmorgen so erlebte – Gemeinde offenbar von Ihrer Kanzel toleriert.
Wir haben aber auch Prediger von Religionen erlebt, die – wie offenbar Sie – dem Nebeneinander oder sogar Miteinander eine Absage erteilen. Der Schritt zum Hass ist dabei kurz.
Wie überheblich muss jemand sein, der von Bremen aus einem „Bauern am Hindukusch in Afghanistan, der keine Chance hatte, Jesus kennenzulernen“ immerhin das Recht einräumt, „durch gute Taten“ am Ewigen Leben teilzuhaben?

Als Friedrich Engels zu Ostern 1841 Bremen verließ, hatte er sich im Hinblick auf „Pfeffersäcke“ und Großgrundbesitzer bereits eine Etappenposition auf dem Weg zur sozialistischen Anschauung erarbeitet:

„Als ob eine Generation das Recht hätte, über das Eigentum aller künftigen Geschlechter, welches sie augenblicklich genießt und verwaltet, unbeschränkt zu verfügen, als ob die Freiheit des Eigentums nicht zerstört würde durch ein Schalten mit demselben, welches alle Nachkommen dieser Freiheit beraubt!“

FOTOS:
Focke-Museum Bremen
© Klaus Jürgen Schmidt

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