Bildschirmfoto 2020 12 03 um 00.25.38Ein Gespräch mit Rolf Gössner über den Umgang mit der PKK in der EU und ein wegweisendes Urteil zur Arbeiterpartei Kurdistans in Belgien

Dilan Karacadag

Köln (Weltexpresso) - Im Januar 2020 hat das belgische Kassationsgericht, wie schon zuvor das Revisionsgericht 2019, entschieden, dass die Kurdische Arbeiterpartei PKK keine terroristische Organisation sei, sondern eine legitime Partei in einem innerstaatlichen Konflikt in der Türkei. Die PKK könne deshalb auch nicht als Terrororganisation eingestuft und mit Antiterrorgesetzen be- kämpft und verfolgt werden, genauso wenig wie deren mutmaßliche Mitglieder und Unterstüt- zer im Ausland. Dieses höchstrichterliche Urteil könnte über Belgien hinaus auch gesamteu- ropäische Bedeutung entfalten. Es sendet jedenfalls die Botschaft aus: Der Konflikt zwischen Türkei und Kurden kann letztlich nicht militärisch, polizeilich und strafrechtlich gelöst wer- den, sondern allein durch Verhandlungen und auf politischem Wege.


Dilan Karacadag im Gespräch mit Rolf Gössner zur Bedeutung dieses Urteils, über das in den bundesdeutschen Medien nur wenig zu lesen war.

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Publizist sowie Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin). Mitherausgeber des „Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB). Sachverständiger in Bundes- und Landtagen zur Sicherheitsgesetzgebung. Autor/ Herausgeber zahlreicher Buchpublikationen zu den Themen Innere Sicherheit, Bürgerrechte und Demokratie. Beschäftigt sich bereits seit den 1990er Jahren anwaltlich, publizistisch und aus menschenrechtlicher Perspektive mit der kurdischen Frage und der Behandlung von Kurd*innen in Europa und der Bundesrepublik.


Der Kassationshof in Brüssel hat sich jüngst mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beschäftigt. Im Januar 2020 bestätigte er die Entscheidung des Revisionsgerichts vom März 2019, wonach die PKK keine „terroristische Organisation” ist. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Ich halte diese Entscheidung für einen ermutigenden Lichtblick, denn damit wird der bisher in Europa vorherrschenden Terrorismuskonstruktion eine realistische und völker- rechtskonforme Sichtweise entgegengesetzt. Der Völkerrechtler Prof. Norman Paech hatte schon in den 1990er Jahren in einem Gutachten analysiert, dass die PKK nicht als terroristische Vereinigung eingestuft werden könne, sondern vielmehr als Teil einer Befreiungsbewegung gegen nationalistische und ethnisch-rassistische Unterdrückung in der Türkei zu bewerten sei.

Und wie schon zuvor das belgische Revisionsgericht hat nun im Januar 2020 auch das Kassationsgericht in letzter Instanz entschieden, dass die PKK keine terroristische Organisation sei, sondern eine legitime Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Türkei. Alle Beschuldigten, die in diesem jahrelangen Gerichtsverfahren wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“ angeklagt waren, sind deshalb von sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen worden.

Diese höchstrichterliche Erkenntnis ist Resultat einer intensiven gerichtlichen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den historischen und politischen Hintergründen des jahrzehntelang ungelösten türkisch-kurdischen Konflikts. Eine Beschäftigung und eine Auseinandersetzung, wie sie in der Bundesrepublik in dieser Intensität und Konsequenz in „Terrorismusverfahren“ gegen kurdische Aktivisten bislang kaum anzutreffen waren.


Welche Konsequenzen und Änderungen wird dieses Urteil hinsichtlich der bisherigen Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurden nach sich ziehen?

Folgt man dem Urteil des belgischen Kassationsgerichts, dass die PKK nicht als Terrororganisation eingestuft werden könne, so kann die PKK in Belgien künftig auch prinzipiell nicht mehr mit nationalen Antiterrorgesetzen verfolgt werden, genauso wenig wie deren (mutmaßliche) Mitglieder und Unterstützer*innen.

Man muss sich dabei allerdings klar machen, dass es sich hier um die nationale Rechtsprechung eines belgischen Gerichts handelt. Und das bedeutet: Diese Entscheidung gilt zunächst einmal ausschließlich in Belgien und nicht darüber hinaus. Die bisherige belgische Kriminalisierungspolitik gegenüber kurdischen Aktivisten im Umfeld der PKK muss damit ein Ende finden; sie dürfen nicht länger als Terrorist*innen bekämpft und verfolgt werden. Wenn belgische Regierungspolitiker dem Vernehmen nach die PKK trotzdem weiterhin als „terroristische Vereinigung“ einstufen, so kommt dies einem offenen Rechtsbruch gleich und wäre ein klarer Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass diesem Richterspruch weiterhin die Listung der PKK auf der EU-Terrorliste entgegensteht; deshalb kann es künftig in Belgien durchaus zu juristischen Irritationen und Widersprüchen kommen.


Und über Belgien hinaus gedacht?

Über Belgien hinaus gedacht, sollte dieses höchstrichterliche Urteil eines EU-Staates meines Erachtens auch zu einem Umdenken in der EU führen und gesamteuropäische Wirkung entfalten. Um die Terrorismuskonstruktion zugunsten einer Entkriminalisierung des Konflikts zu überwinden, bedarf es allerdings politischer Schritte und Entscheidungen – so auch in der Bundesrepublik Deutschland wie in jedem EU-Mitgliedstaat sowie auf EU-Ebene. Denn das belgische Urteil sendet doch eine klare und sehr bedenkenswerte Botschaft aus: Der Konflikt zwischen Türkei und Kurd*innen kann letztlich nicht militärisch und auch nicht polizeilich und strafrechtlich gelöst werden, sondern allein durch Friedensverhandlungen, also auf politischem Wege. So wie es auch die PKK schon seit Längerem fordert und wie es in der Vergangenheit in der Türkei auch schon in Ansätzen versucht worden ist.


Wird durch diese Entscheidung nicht auch das seit 1993 bestehende PKK- Verbot in Deutschland widerlegt?

Leider gilt auch hier: Das eine – Urteil in Bel- gien – hat mit dem anderen – PKK-Verbot in der Bundesrepublik – nichts zu tun und da- mit eben auch keinen unmittelbaren Einfluss. Das bundesdeutsche PKK-Betätigungsverbot, das im Übrigen innerhalb der EU einmalig ist, wird so lange in Kraft bleiben und exekutiert, bis es abgeschafft wird. Es bedarf also einer bewussten politischen Entscheidung, für die der Bundesinnenminister und die Bundesre- gierung zuständig sind. Doch trotz des Wan- dels, den die einst gewaltorientierte Kader- partei PKK in Europa in Richtung einer fried- lich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzogen hat, besteht ihr Verbot in Deutschland bis heute fort. Und die Bundesregierung hat in den letzten Jahren dieses Verbot sogar noch erheblich ausgedehnt – etwa auf bislang nicht verbotene Symbole und Bilder im Kampf von Kurd*innen um politisch-kulturelle Rechte und für demokratische Autonomie.


Wie hat sich das PKK-Verbot bisher ausgewirkt?

Insgesamt betrachtet hat das PKK-Verbot – das auf Drängen der Türkei erfolgte – in den 27 Jahren seit seinem Erlass viel Unheil gestiftet: Zigtausende politisch aktiver Kurden sind damit diskriminiert und kriminalisiert worden – oft genug nur wegen verbaler oder symbolischer „Taten“. Sie wurden praktisch unter Generalverdacht gestellt, zu potentiellen Gewalttätern und auch gefährlichen „Terroristen“ gestempelt und damit zu innenpolitischen Feinden und Sicherheitsrisiken erklärt und ausgegrenzt. Für Kurden – die nicht selten aus der Türkei vor Unterdrückung, Verfolgung und Folter geflohen waren – war es unter Verbotsbedingungen zeitweise fast unmöglich, hierzulande von ihren elementaren Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen.

Durch das Betätigungsverbot werden die Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit und damit die freie politische Betätigung massiv beschränkt. Demonstrations- verbote und Razzien, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Vereinen, Druckereien, Redaktionen und Verlagen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen waren und sind immer wieder an der Tagesordnung, genauso wie geheimdienstliche Ausforschung und Infiltration durch Staats- und Verfassungsschutz. Auf Grundlage des PKK-Verbots werden – außer Verboten und Beschlagnahmungen – auch Geld- und Freiheitsstrafen verhängt, Einbürgerungen abgelehnt, Staatsbürgerschaften aberkannt, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert und Asylanerkennungen widerrufen oder Ausweisungen verfügt.

Wie kritisch auch immer man zur PKK, ihrer Politik und ihren Aktionen stehen mag, eines dürfte doch klar geworden sein: Mit solchen Verboten werden keine der drängenden Probleme gelöst, sondern weitere produziert; und die Verbotsverfechter werden mit dieser Verbotspolitik der Entwicklung der PKK und ihrer Anhänger sowie der Lage in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten in keiner Weise gerecht. Längst ist dieses Betätigungsverbot zum kontraproduktiven Anachronismus geworden und gehört schon deshalb und auch nach Auffassung namhafter Bürger- und Menschenrechtsorganisationen schleunigst aufgehoben.


Welche Auswirkungen hat all dies auf Gerichtsprozesse nach Paragraph 129a/ b Strafgesetzbuch in der Bundesrepublik? Und welche Initiativen können Anwälte in solchen Prozessen ergreifen, um die Brüsseler Entscheidung inhaltlich zu befördern?

Welche Auswirkungen die belgische Entscheidung auf bundesdeutsche „Terrorismus- verfahren“ – in der Regel nach § 129 b Strafgesetzbuch = Terroristische Vereinigung im Ausland – haben wird, das bleibt erstmal abzuwarten. Unmittelbar wird sie keine Wirkung auf hiesige Gerichtsverfahren haben. Doch es wird nicht ausbleiben, dass die Anwält*innen der Angeklagten die Argumentation des belgischen Kassationsgerichts und die völkerrechtliche Dimension in die jeweiligen Verfahren einbringen und die Richter*innen damit konfrontieren werden. Das ist zwar inhaltlich bislang zumeist auch schon geschehen, aber es dürfte den zuständigen Gerichten nun doch schwerer fallen als bisher, eine solche höchstrichterliche Argumentation eines anderen EU-Staates einfach zu ignorieren oder abzutun.


Vor der Brüsseler Entscheidung gab es doch schon ähnliche Urteile: So sollte die PKK längst von der sogenannten EU- Terrorliste gestrichen werden. Dies ist jedoch bis heute nicht umgesetzt worden. Könnte sich das nun ändern?

Auch hier muss man zunächst die Erwartungen ein wenig dämpfen: Denn das eine hat auch hier mit dem anderen leider nichts unmittelbar zu tun. Die Brüsseler Entscheidung hat keinerlei direkte Auswirkungen auf die EU-Terrorliste und ihren Inhalt. Auf dieser Terrorliste sind Einzelpersonen und Organisationen aufgeführt, die in der ganzen EU als „terroristisch“ gelten beziehungsweise in den EU-Mitgliedstaaten als solche zu gelten haben – mit all den negativen Konsequenzen für die Betroffenen. Und dies gilt auch wei- terhin – ungeachtet des Brüsseler Urteils. Seit 2002 finden sich auf dieser Liste eben auch die PKK (und Nachfolge-Organisationen) – und das bis heute, obwohl diese Or- ganisation seit Jahren keine Gewalttaten in Europa verübt, sich sogar für frühere Gewalt in Europa entschuldigt hat, sich darüber hinaus für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Türkei einsetzt und kurdische Verbündete in Nordsyrien zu einem stabilisierenden Faktor im Nahen und Mittleren Osten und im Abwehrkampf gegen den IS- Terror geworden sind. Nun wäre von der belgischen Regierung eigentlich zu erwarten, dass sie nach dem Urteil des Kassationsgerichts die Löschung der PKK von der EU-Terrorliste initiiert und dafür Bündnispartner sucht.


Welche politischen Hintergründe hatte die Aufnahme der PKK auf die EU-Terrorliste?

Ja, gerne. Mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste entsprach die EU seinerzeit dem Wunsch des NATO-Partners Türkei – ausge- rechnet eines Landes, das sich selbst gravie- render Menschenrechtsverletzungen und des Staatsterrors schuldig machte und macht. Durch die politisch motivierte Listung auf EU- Ebene fühlte sich der türkische Staat zusätz- lich legitimiert, im eigenen Land mit Unter- drückung und Staatsterror gegen „terroristi- sche“ Kurden, ihre Organisationen und an- gebliche Unterstützer vorzugehen sowie die friedliche Lösung der Kurdenfrage immer wieder zu torpedieren. Mit dieser willfährigen Übernahme der ausufernden „Antiterror“-Po- litik der Türkei durch die EU und unter Ver- weis auf die EU-Terrorliste sind Abertausen- de von Kurd*innen in Europa als „Terrorhel- fer“ kriminalisiert, verfolgt und inhaftiert worden – denn gerade diese Listung bildet die Grundlage für Prozesse gegen kurdische Aktivisten in europäischen Ländern, in denen es ansonsten kein spezielles PKK-Verbot wie in der Bundesrepublik gibt.

Für betroffene Gruppen und Personen hat die Aufnahme in die Terrorliste im Übrigen existentielle Folgen: Sie sind quasi vogelfrei, werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert – oder wie der frühere EU-Sonderermittler Dick Marty sagte: „Wer einmal draufsteht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben“ – das sei „zivile Todesstrafe“ oder mit meinen Worten ausgedrückt: Existenzvernichtung per Willkürakt.

Die EU greift damit im „Kampf gegen den Terror“ gewissermaßen selbst zu einem Terror-Instrument aus dem Arsenal des „Feindstrafrechts“ – eines Sonderrechts gegen an- gebliche „Staatsfeinde“, die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich geächtet werden. Ihre drakonische Bestrafung wird quasi im rechtsfreien Raum exekutiert – also ohne Gesetz, ohne überprüfbare Beweise, ohne Urteil und ohne wirksame Kontrolle.


Inzwischen gibt es doch aber gerichtliche Urteile zur EU-Terrorliste, die feststellen, dass einzelne Organisationen, wie auch die PKK, zu Unrecht dort gelistet worden sind.

Richtig. Trotz aller Entrechtung hat das Gericht der EU inzwischen für Rechtsschutz gesorgt und die Aufnahme in die Terrorliste und das Einfrieren der Gelder in einzelnen Fällen für rechtswidrig erklärt. Allerdings aus eher formal-verfahrensrechtlichen als aus inhaltlichen Gründen: Die Richter monierten, dass der Anspruch der Betroffenen auf Begründung der Listungsmaßnahmen, auf rechtliches Gehör und auf effektive Verteidigung eklatant missachtet worden sei. Daraufhin musste das Listungsverfahren geändert werden. Zwar sind die Betroffenen danach pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch konkrete Abhilfe wurde nicht geschaffen. Denn die gerügten Verfahrensfehler seien ja damit behoben und Begründungen nachgeliefert worden.

Mittlerweile ist auch die Aufnahme der kurdischen PKK / Kadek in die Terrorliste wegen Verfahrensfehlern für rechtswidrig erklärt worden – zumindest für die Zeit von 2014 bis 2017, wie das EU-Gericht im November 2018 festgestellt hat. So seien die Gründe und Vorfälle, die zur Listung der PKK in jener Zeit geführt hatten, nicht ausreichend belegt worden; außerdem sei weder der zeitweise Friedens- und Verhandlungsprozess zwischen PKK/Kurden und türkischer Regierung noch der Transformationsprozess und die neue Rolle der Kurden im Mittleren Osten berücksichtigt worden – etwa im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat (IS) oder beim Aufbau einer demokratisch-emanzipatorischen Selbstverwaltungsstruktur in Nordsyrien. Diese Gerichtsentscheidung gilt jedoch nur für die Listung der PKK bis Ende 2017. Da ihre Listung auch nach 2017 bis heute beschlossen worden ist, musste nun auch noch dagegen geklagt werden. Doch dieses Urteil steht immer noch aus.


Wie könnte es angesichts der aktuellen Entwicklungen weitergehen?

Nun, das belgische Urteil könnte und sollte innerhalb der EU, wie schon angedeutet, endlich zu der Erkenntnis führen, dass eine Lösung der kurdischen Frage im gewaltsamen Konflikt mit der Türkei nicht mit militärisch-polizeilich-gerichtlichen Mitteln möglich sein wird, sondern nur auf politischen Verhandlungswegen. Um dieser Erkenntnis auch zu entsprechen, müssten das PKK-Verbot in Deutschland und die Listung der PKK auf der EU-Terrorliste aufgehoben und die Terrorismusverfahren beendet werden. Nur so kön- nen Stigmatisierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung wesentlicher Teile der kurdischen Community, ihrer Organisationen und Medien als „terroristisch“ hierzulande und in Europa ein Ende finden. Selbstverständlich können im Falle von Gewalttaten solche auch jenseits der strafrechtlichen Terrorismusnormen geahndet werden.

Die kurdische Frage ist jedenfalls weniger denn je ein Terrorproblem, sondern ein politisches, ein menschenrechtliches Problem der Türkei mit weit reichenden Auswirkungen auf Europa und die Bundesrepublik. Dieses Pro lem bleibt die Schlüsselfrage, deren Lösung Voraussetzung ist für eine Verbesserung der prekären Menschenrechtslage und für eine Demokratisierung in der Türkei – und damit auch für einen immer noch nicht völlig abgebrochenen EU-Beitrittsprozess.

Aus all diesen Gründen brauchen wir einen radikalen Wandel der europäischen Türkei- und Kurdenpolitik. Und dazu gehört: endlich die Völkerrechtsverbrechen der Türkei, die katastrophale Menschenrechtslage und die kurdische Frage als historische Herausforderung unverzüglich und mit Nachdruck auf die Agenda der EU zu setzen. Denn EU und Deutschland tragen schließlich eine gesteigerte Verantwortung bei der Behandlung der kurdischen Frage und für die weitere Entwicklung der Türkei als Mitglied des Europa- rats und der NATO. Warum? Wegen der Verstrickungen von EU und NATO sowie ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten in die gesamte Problematik – und dazu gehören: die völkerrechtswidrigen Kriegsattacken des NATO-Mitgliedstaats Türkei gegen Nordsyrien und gegen die dortige kurdische Selbstverwaltung, die umfangreichen und intolerablen Rüstungsexporte aus Deutschland und anderen EU-Staaten, die im türkischen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung sowohl in der Türkei als auch in Nordsyrien bereits eine verheerende Rolle spielten, und der menschenrechtlich zweifelhafte Flüchtlingsdeal, der Deutschland und die EU-Mitgliedstaaten immer wieder erpressbar und fügsam macht. Aus diesen Verstrickungen resultiert eine gesteigerte Verantwortung, der EU und Deutschland endlich gerecht werden müssen. Ohne scharfen Politikwechsel wird das nicht gehen.

Foto:
Rolf Gössner
© Dirk Ingo Franke

Info:

Nachdruck aus JUNGE WELT, Wochenend-Beilage 11.-12. April 2020, S. 1
Internet: https://www.jungewelt.de/artikel/376317.l%C3%B6sung-der-kurdischen-frage-weniger-denn-je-ein-terror-sondern- ein-politisches-problem.html

Neuere Publikationen von Rolf Gössner zu den Themenbereichen Kurdische Frage / PKK / Türkei- und Kurdenpolitik / deutsch-türkische Sicherheitskooperation:

  Rolf Gössner, Gefährliche »Sicherheitskooperation«. Deutsch-türkische Geheimdienst-, Polizei- und Militär-Zusammenarbeit, in: FriedensForum 6/2020 (Schwerpunkt Türkei), https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/ausgaben/6-2020-tuerkei   „Es lohnt sich, für die Utopie zu kämpfen“ – Laudatio auf Prof. Dr. Norman Paech. Der Völker- rechtler erhielt einen Preis für seinen Einsatz für die Rechte der Kurden. U.a. in: Hinter-den- Schlagzeilen v. 19.02.2020: https://hinter-den-schlagzeilen.de/es-lohnt-sich-fuer-die-utopie-zu- kaempfen  Ders., Das PKK-Verbot hat viel Unheil gestiftet, in: Yeni Özgür Politika v. 26/11/2019: http://yeniozgurpolitika.net/rolf-gossner-das-pkk-verbot-hat-viel-unheil-gestiftet/

 Dialog statt Kriminalisierung. Rolf Gössner plädiert für einen radikalen Wandel der europäischen und deutschen Türkei- und Kurdenpolitik. Exklusivabdruck aus „Kurdistan-Report“ Sept./Okt. 2019, S. 32 ff.: http://www.kurdistan-report.de/images/pdf/205.pdf. Langfassung in: Rubikon v. 25.09.2019: https://www.rubikon.news/artikel/dialog-statt-kriminalisierung