Gideon Saar – der neue Mann am israelischen Polithimmel?
Richard C. Schneider
Tel Aviv (Weltexpresso) - Gideon Saar hat dem Likud den Rücken gekehrt und sägt nun an Binyamin Netanyahus Stuhl, der Premier hadert derweil mit Budget und Neuwahlen.
Es schien schon alles klar: Die Knesset hatte mit den Stimmen von Benny Gantz’ Blauweiß mehrheitlich für eine Auflösung des Parlaments und damit der aktuellen Koalition gestimmt. Und es sah so aus, als ob die zweiten und dritten Lesungen und Abstimmungen, die dann endgültig zu Neuwahlen führen, nur noch eine Formalität wären. Denn niemand ging davon aus, dass Netanyahu letztendlich doch noch einem Staatsbudget zustimmen würde, was er bis zum 23. Dezember dieses Jahres machen müßte, ehe sich die Knesset automatisch auflösen würde.
Zum besseren Verständnis: Abgesehen davon, dass es für einen Staat mitten in der Corona-Krise wirtschaftlich eine Katastrophe ist, kein Budget zu haben, geht es Netanyahu um etwas ganz anderes. Der Koalitionsvertrag zwischen seinem Likud und Blauweiss sieht nicht nur eine Rotation vor, gemäss welcher Benny Gantz im November 2021 Premierminister werden würde, sondern es ist darin auch festgehalten, dass im Falle eines Auseinanderbrechens der Koalition automatisch Gantz als kommissarischer Premier bis zur Neuwahl eingesetzt würde. Was Netanyahu einen erheblichen Nachteil nicht nur angesichts seines Korruptionsprozesses, sondern auch für seine Wiederwahl bescheren würde. Doch das israelische Gesetz besagt auch, dass eine Koalition sich eben automatisch auflösen würde, wenn das Budget nicht verabschiedet wird, aber damit bliebe Netanyahu automatisch kommissarisch Premierminister. Das Budget ist also sein Pfund, mit dem er wuchert, um Gantz daran zu hindern, überhaupt jemals in den Amtssitz des Premiers in der Balfour-Street in Jerusalem zu ziehen.
Die Konzessionen des Likud
Gantz hat für eine Auflösung der Knesset gestimmt, um Netanyahu zum Einlenken zu zwingen. Doch ob diese Rechnung aufgeht? Bis vergangenen Montag sahen die Umfragen einen klaren Sieg der rechten und religiösen Parteien voraus. Zwar würde der Likud massiv Mandate verlieren, die Naftali Bennett und Ayelet Shaked mit ihrer ultrarechten Yamina-Partei zugute kämen. Und beide sind verhasste Erzrivalen Netanyahus. Doch letztendlich würde es zu einer Koalition von Likud, den Orthodoxen und Yamina kommen. Netanyahu müsste dann wohl gegenüber einer erstarkten Yamina wesentliche Konzessionen machen, doch er hätte die Chance, ein Immunitätsgesetz durchzupeitschen, dass ihn endgültig und für immer aus den Klauen der Justiz befreien und die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe in nichts auflösen würde. Insofern war die Entwicklung der letzten Tage interessant. Immer mehr linksliberale Kommentatoren beschworen Benny Gantz, im Zweifelsfall Kompromisse beim Budget zu machen, um nur ja die Koalition zu erhalten und der Demokratie keinen Todesstoss zu versetzen, indem eine ungehinderte Rechte unter Netanyahu Gesetze verabschieden kann, wie es ihr gerade passt.
Bombe geplatzt
Doch nun werden die Karten neu gemischt. Gideon Saar hatte am Dienstag angekündigt, er werde den Likud verlassen und eine eigene Partei gründen und bei Neuwahlen für das Amt des Premierministers kandidieren. Dies ist wahrhaftig eine Bombe, die mitten in den Likud einschlug. Denn Saar ist Likud pur. Ein echter rechter mit liberalen Zügen, aber dennoch ein strammer Nationalist. Und ein Demokrat, das muss man in diesen Zeiten wohl extra betonen. Saar hat sich schon länger gegen Netanyahu positioniert. Zwar hat er 2019 bei der Wahl zum Vorsitzenden des Likud klar gegen Netanyahu verloren, doch er begann, sich damit allmählich als Rivale zu positionieren. Nun also hat er den Likud verlassen, weil der Likud längst nicht mehr die Partei eines Menachem Begin oder eines Ariel Sharon ist. Sie ist, ähnlich wie die ÖVP in Österreich mit Bundeskanzler Kurz, zur Wahlplattform für Netanyahu und nur für Netanyahu geworden. Sie ist längst ihres ideologischen Kerns beraubt.
Saar will bei Neuwahlen gegen Netanyahu antreten, als Kandidat für das Amt des Premiers. Und anders als Benny Gantz, anders wohl auch als Naftali Bennett, wird Saar mit ziemlicher Sicherheit im Falle einer Niederlage nicht mit Netanyahu koalieren. Saar will nicht an der Macht teilhaben, er will Netanyahu weghaben. Er will der demokratischen Rechten wieder eine Stimme geben. Gewiss ist er in manchen Bereichen, insbesondere wenn es um einen Palästinenserstaat und die besetzten Gebiete geht, noch weiter rechts zu verorten als Netanyahu. Aber er hat dafür eine klare soziale Agenda, für ihn ist jeder Israeli Teil des Landes und nicht, wie bei Netanyahu, ein Feind, wenn er nicht für ihn ist. Die Tatsache, dass seine Frau politisch links steht, erzählt viel über Saars Toleranzfähigkeit.
Gantz als Premier oder nicht?
Mit seinem Austritt aus dem Likud werden die Karten neu gemischt. Saar dürfte dem Likud eine ganze Reihe von Stimmen und damit Mandaten abnehmen und wahrscheinlich auch der Yamina-Partei von Naftali Bennett, die im Augenblick fünf Sitze in der Knesset hat, in Umfragen aber bei 20 stand. Auch Yemina könnte durch Saar reduziert werden. Ist damit Netanyahu bereits besiegt? Nein, gewiss nicht. Aber sein Stuhl könnte wackeln und auch Bennett kann sich nicht mehr so sicher sein, dass er wenigstens die Nummer zwei in der israelischen Politik wird.
Gideon Saar geht allerdings mit seiner Entscheidung auch ein hohes Risiko ein. Netanyahu weiss, dass dieser Politiker ihm wirklich gefährlich werden könnte. Und möglicherweise beginnt er abzuwägen, was für ihn besser wäre: ein Kompromiss mit Benny Gantz oder Neuwahlen. Möglicherweise wird er sich gegen Neuwahlen entscheiden. Und auch Gantz könnte dementsprechend reagieren. Dieser weiss schon jetzt, dass seine Partei in einer neuen Knesset viele Mandatssitze verloren haben wird, aber nun könnte es für ihn das komplette Aus bedeuten. Und so könnte es eventuell doch noch zur Verabschiedung eines Budgets kommen – und Benny Gantz würde im November vielleicht sogar Premier werden. Netanyahu könnte sich zum Präsidenten wählen lassen – womit er komplette Immunität hätte – oder auch nach der Rotation wieder als Premier antreten. Damit aber würde Saar mit seinen Ambitionen erst einmal aufs Abstellgleis geschoben werden. Spannend bleibt es dennoch, Gideon Saar hat seinen Fehdehandschuh hingeworfen. Nun sind die anderen dran.
Foto:
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. Dezember 2020