Was über die die Konzentrationslager der Nazis schon 1936 bekannt war
Klaus Jürgen Schmidt
Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Am 5. Januar wies eine sorgfältig recherchierte Dokumentation auf „arte“ nach, dass weder im kapitalistischen Westen noch im sozialistischen Osten Deutschlands eine Entnazifizierung wirkungsvoll stattgefunden hat.
Ich stelle hier zwei Deutsche vor, die ihr ganzes berufliches Leben der Aufgabe gewidmet haben, das zu ändern. Der eine als Sohn eines Antifaschisten, der andere als Sohn eines Nazi-Nutznießers.
Der eine, Kurt Nelhiebel, benötigt an dieser Stelle keine Einführung, er schreibt seit Jahren seine politischen Analyen auch für „Weltexpresso“. Doch während der andere, Prof. Jörg Wollenberg, als Heranwachsender erkennen musste, dass sein Vater Nutznießer des Nazi-Regimes gewesen war, bewahrte den jugendlichen Wehrmachtssoldaten Kurt Nelhiebel ein Brief seines Vaters davor, am Ende des Krieges von Partisanen erschossen zu werden:
Der Briefwechsel zwischen dem sudetendeutschen Antifaschisten Eugen Nelhiebel und seinem damals 17jährigen Sohn Kurt beginnt mit dessen Einberufung zur Wehrmacht im Dezember 1944 und endet im Mai 1945. Die Briefe des Vaters liegen in Original-Durchschrift vor, einer davon im Original. Es ist jener Brief, der dem Sohn das Leben gerettet hat, als er bei der Heimkehr aus Krieg und Gefangenschaft im Mai 1945 tschechischen Partisanen in die Hände fiel.
KJS: „Nelhiebels Welt“
Prof. Dr. Jörg Wollenberg, geboren in Ahrensbök 1937, war unter anderem 1985 bis 1992 Leiter des Bildungszentrums der Stadt Nürnberg. Von 1978 bis zu seinem Ruhestand 2001 war er Professor für Weiterbildung mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Universität Bremen. Er ist Mitgründer der Gedenkstätte Ahrensbök und Mitglied des Trägervereins.
Jörg Wollenberg machte mir eines seiner sehr persönlichen Forschungsergebnisse zugänglich.„Sonderführer“ auf Raubzüge im Osten. Verhinderte Reise in die Ukraine 1943 - eine familiäre Spurensuche. Daraus diese Bilder mit Texten von Jörg Wollenberg:
Jörg Wollenberg: Auf einem Eutiner Dichtertreffen vom September 1936 mit Vertretern des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda konnte der Regierungspräsident auch auf Erfolge im Sportbereich verweisen. So fuhren 1936 von Eutin zwei Sportler nach Berlin: Der herausragende Zehnkämpfer Hans Heinrich Sievert und Fritz Wollenberg. Sie waren während der Olympischen Spiele in Berlin zum Zuschauen verurteilt. Der eine, Sievert, weil der Weltrekordhalter im Zehnkampf und große Favorit für die Goldmedaille verletzt war. ...
... Der andere, mein Vater, weil er sich im Weitsprung nicht für die Spiele qualifizieren konnte. Dafür durfte er als Mitglied von Riemann Eutin am 4. August 1936 den Sieg von Jesse Owens über Lutz Long als Zuschauer im Olympiastadion zur Kenntnis nehmen.
Ein Sieg, der aus der Sicht der nationalsozialistischen Ideologie minderwertigen schwarzen Rasse über den mit allen arischen Attributen ausgestatteten deutschen Wettkämpfer.
Ein weiteres besonders Ereignis aus diesen Berliner Tagen blieb zu seinen Lebzeiten unerwähnt. ...
(Faltkarte vom August 1936, hergestellt in Frankreich als „Weltrekord des Terrors“. Format 53x 42 cm. Sie wurde per Post von Frankreich aus ausländischen Teilnehmern an den Olympischen Spielen in Berlin zugestellt. Fundort IML, ZPA, I 2/8, heute im Staatsarchiv Berlin. Weiterer Fundort: IISG, Collection Comité Sportif International du Travail und Privatarchiv Jörg Wollenberg.)
... Diese Karte lag jahrelang verborgen auf dem Dachboden unseres Wohnhauses in Ahrensbök in einem Koffer mit zahlreichen anderen „Raritäten“ aus der NS-Zeit. Erst nach dem Tode meines Vaters (1971) entdeckte ich sie bei Aufräumarbeiten. Kein Wort der Erinnerung daran zu seinen Lebzeiten. Die NS-Zeit blieb auch gegenüber mir, dem ältesten 1937 geborenen Sohn von fünf Kindern, der ab 1957 in Hamburg, Göttingen und Paris Geschichte, politische Wissenschaften und Germanistik studierte, trotz aller Nachfragen tabuisiert. Erst die Eröffnung der NS-Gedenkstätte Ahrensbök in Holstein veranlasste mich, der Geschichte der wenig bekannten „Übersichtskarte“ nachzugehen. Ich trug so dazu bei, dass dieser „Weltrekord des Terrors“ in der Gedenkstätte Ahrensbök gezeigt wird – als Einstieg in die dort von Wolf Leo und mir präsentierte Dauerausstellung zur Geschichte der frühen Konzentrationslager im Landesteil Lübeck des Freistaates Oldenburg mit den „Schutzhaftlagern“ in Eutin, Bad Schwartau und Ahrensbök vom März 1933 bis zum Mai 1934.
Schleswig-Holstein Journal, 16.11. 2013
Jörg Wollenberg: Die norddeutsche Kleinstadt Eutin war schon vor 1933 mit rund 700 NSDAP-Mitgliedern unter den 7000 Einwohnern eine „frühe Hochburg der Hitlerbewegung“ und „Probebühne des Dritten Reiches“ (L.D. Stokes). Hier übernahm nach dem Landtagswahlsieg der NSDAP am 29. Mai 1932 mit 51 Prozent der Stimmen erstmals in der Weimarer Republik der Eutiner Rechtsanwalt Johann Heinrich Böhmcker als SA-Gruppenführer Nordsee mit Sitz in Bremen Mitte Juli 1932 die Leitung einer NSDAP-Alleinregierung im Landesteil Lübeck des Freistaates Oldenburg mit rund 50.000 Einwohnern. Auch im größeren Landesteil Oldenburg des Freistaates mit knapp einer halben Million Einwohnern bildeten sie 1932 mit dem Gauleiter Carl Röver eine NS-Alleinregierung, die erste von 17 Landesregierungen der Weimarer Republik. Ab März 1933 eröffneten die Nationalsozialisten in allen Teilen Deutschlands Konzentrationslager mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Kaum etwas vollzog sich in Deutschland öffentlicher, als die Überführung von „Schutzhäftlingen“ in diese frühen KZ. Und dennoch verleugneten allzu viele Zeitzeugen die Existenz der frühen KZ nach 1945. Die gleichgeschaltete Presse berichtete täglich über die gelegentlich als Umerziehung deklarierten Maßnahmen der „Schutzhaft“. So teilten z. B. die „Bremer Nachrichten“ (BN) am 2. April 1933 offiziell per Anzeige der Polizeidirektion die „Einrichtung eines Konzentrationslagers“ mit: „Von den in Bremen aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in polizeilicher Schutzhaft befindlichen Marxisten und Kommunisten wurden am Freitag und Sonnabend zunächst etwa 100 Gefangene in ein Konzentrationslager überführt“. Nach den Angaben der Bremer Gestapo befanden sich Ende 1933 insgesamt 1305 Vertreter der Bremer Arbeiterbewegung in Schutzhaft. Die meisten von ihnen durchliefen das Mitte März 1933 „eröffnete“ Bremer KZ, untergebracht in den einstigen Auswanderhallen Mißler in der Walsroder Straße des Stadtteil Findorff, unweit vom Bremer Hauptbahnhof gelegen. Ab 17. März 1933 berichtete die Presse über die Ereignisse im KZ Mißler. Besonders ausführlich „über das Leben im Lager“ am 23. Juli 1933 im Bremer Organ der NSDAP. Ein Redakteur hielt sich dort „zwei Tage unerkannt als getarnter Marxist im KZ“ auf. Er berichtete „über interessante Erlebnisse in der Umgebung des Genossen Faust und anderer gestürzten Säulen der Judenrepublik“. So wollte er die „Lügenpresse der ausländischen Judenpresse mit Tatsachenmaterial widerlegen“. Die Exilpresse aus Prag und Wien konterte im Oktober1933 mit ausführlichen Berichten und Fotoreportagen in der AIZ und der Wiener Bild-Illustrierten Kuckuck.Trafo-Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-86464-063-6
Jörg Wollenberg: Über meine Reisen in die DDR und nach Polen als VHS-Leiter in Bielefeld informierte auch der BND das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Akte gelangte auf dem Schreibtisch des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld und veranlasste ihn, „einen besorgten Brief“ zu schreiben: „Wollenberg ist offensichtlich bestrebt, die Volkshochschule in eine bestimmte Richtung zu lenken, die die der Rat der Stadt nicht billigen kann“.
Fotos:
© arte / Wollenberg / Nelhiebel
Info:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Wollenberg
http://www.gedenkstaetteahrensboek.de/
https://www.kurt-nelhiebel.de/biographie/briefe-des-vaters/
Jörg Wollenberg: Über meine Reisen in die DDR und nach Polen als VHS-Leiter in Bielefeld informierte auch der BND das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Akte gelangte auf dem Schreibtisch des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld und veranlasste ihn, „einen besorgten Brief“ zu schreiben: „Wollenberg ist offensichtlich bestrebt, die Volkshochschule in eine bestimmte Richtung zu lenken, die die der Rat der Stadt nicht billigen kann“.
Fotos:
© arte / Wollenberg / Nelhiebel
Info:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Wollenberg
http://www.gedenkstaetteahrensboek.de/
https://www.kurt-nelhiebel.de/biographie/briefe-des-vaters/