Die politischen Ärgernisse der Woche
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Zwei exemplarische Ärgernisse, Schuldenbremse und Frankfurter Provinzpossen, lassen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Politik aufkommen.
Diese Politik hat mit der Schuldenbremse die staatliche Daseinsvorsorge ausgebremst. Bürger jenseits des Facebook-Horizonts hatten das bereits vor einem Jahrzehnt befürchtet. Aber Propheten haben es bekanntlich schwer und werden als Narren abgetan. Solange, bis die Wirklichkeit selbst die düstersten Voraussagen in den Schatten stellt.
Am 27. März 2011 fand in Hessen eine Volksabstimmung über das „Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen (Aufnahme einer Schuldenbremse in Verantwortung für kommende Generationen - Gesetz zur Schuldenbremse)“ statt. Der Hessische Landtag hatte diese Verfassungsänderung am 15.12.2010 beschlossen. Auch 70 Prozent der Bürger, die an der Abstimmung teilgenommen hatten, waren dafür. Bereits am 29. Mai 2009 hatte der Deutsche Bundestag einer entsprechenden Änderung des Grundgesetzes (Artikel 109) mit Zwei-Drittel-Mehrheit zugestimmt.
Damit erhielt ein verheerender staatspolitischer Irrtum Verfassungsrang. Die Ausgaben des Staats sollten sich fortan und endgültig nicht mehr an strukturellen und sozialen Notwendigkeiten orientieren, sondern an den Regeln des Neoliberalismus. Der proklamiert aus privatwirtschaftlichem Eigeninteresse einen schwachen Staat, der nur geringe Steuern erhebt und viele seiner typischen Aufgaben privatisiert. Dazu wurden und werden die unumgänglichen Investitionen der Allgemeinheit bewusst als Schulden diskreditiert, so als ob es sich bei den Staatsfinanzen um die Kasse eines Krämerladens handeln würde. Bereits vor der Verabschiedung der Schuldenbremse zeichnete sich der Trend zur schrankenlosen Einflussnahme durch Konzerne ab. Gerhard Schröders Agendapolitik leistete dabei entscheidende Hilfe. Die in den 1970er Jahren in der SPD kontrovers diskutierte These vom staatsmonopolistischen Kapitalismus schien endgültig der Vergangenheit anzugehören. Und mit ihr die Überzeugung, dass die Schulden des Staates lediglich die Summe jener Steuern sind, die man von florierenden Unternehmen und reichen Privatpersonen nicht erhoben hatte.
Die Corona-Pandemie offenbart nun überdeutlich, wohin die falsche Sparsamkeit der öffentlichen Hand führt. Nämlich zu miserabel ausgestatteten Schulen, zu einem zunehmend privatisierten Gesundheitssystem, zu einer anachronistischen Verkehrsinfrastruktur und zu einer öffentlichen Verwaltung, an der die technischen Innovationen der letzten vier Jahrzehnte spurlos vorbeigegangen sind. Die Liste der Versäumnisse ist damit jedoch noch längst nicht vollständig.
Anscheinend bedurfte es erst eines prominenten Mahners, nämlich des Chefs des Bundeskanzleramts, des Ministers Helge Braun. Der hält die Aussetzung der Schuldenbremse über das laufende Jahr hinaus für erforderlich und erntete dafür sofort den Widerspruch des Wirtschaftsflügels seiner Partei sowie den der Kleinpartei FDP. Doch der Streit zeigt, dass Covid-19 Anlass gibt, vieles allzu Selbstverständliche infrage zu stellen.
Auch in einem anderen Bereich findet eine totale Verdrängung der Realitäten statt. Ich meine damit das Gezerre um die Frankfurter Theaterdoppelanlage. Deren Gebäudesubstanz haben die politisch Verantwortlichen während der letzten vierzig Jahre bewusst dem Verfall preisgegeben. Die Kosten für eine umfassende Sanierung liegen nach Einschätzung angefragter Fachleute nur knapp unter denen, welche für einen Neubau anzusetzen wären. Also bei etwa einer Milliarde Euro. Andere Experten halten zwar die finanziellen Aufwendungen für eine Sanierung als deutlich zu hoch angesetzt. Aber Magistrat und Stadtverordnetenversammlung, die sich mehrheitlich den Ruf von überzeugten Kulturverächtern erworben haben, sind sich einig. Es soll ein Neubau werden. Selbst die infolge der Corona-Pandemie leeren Kassen führen bislang zu keinem Umdenken. Möglicherweise möchte man die erlahmende Konjunktur durch eine Großinvestition wieder ankurbeln. Und im Vergleich zur Unterstützung klimaschädigender Unternehmen wie der Lufthansa wäre diese Milliarde sicherlich gut angelegtes Geld.
Umstritten zwischen den Koalitionsparteien (CDU auf der einen Seite, SPD und ein Teil der Grünen auf der anderen) ist lediglich der künftige Standort. Soll der neue Kulturpalast am bisherigen Ort, dem verkehrsgünstig gelegenen Willy-Brandt-Platz, gebaut werden oder auf einem abseits gelegenen Areal in der Nähe des Osthafens? Eigentlich ist diese Frage par ordre du mufti längst entschieden. Denn das hessische Wirtschaftsministerium hat unlängst die Stadt Frankfurt in einem Schreiben darauf hingewiesen, dass der geltende Landesentwicklungsplan den Osthafen als erweiterungsfähigen Hafen ausweise. Wohlgemerkt: als Hafen, nicht als Lokalität für die Bühnen. Auch wenn die inoffizielle Hymne der Stadtregierung das denkwürdige Eingeständnis enthält „Das Schreiben und das Lesen ist nie unsere Sach‘ gewesen“ – berufen sollte man sich auf mangelhaft entwickelte Kulturtechniken dennoch nicht.
Im Streit um den Verbleib am angestammten Platz spielt auch das Glasfoyer mit seiner goldfarbenen Wolkenplastik eine Rolle. Angeblich stünde es unter Denkmalschutz, müsste darum in einen Neubau miteinbezogen werden. Eine schwierige Situation. Denn das Areal am Willy-Brandt-Platz scheint (selbstverständlich unter der Hand) bereits den Immobilienspekulanten mit hoher Verbindlichkeit in Aussicht gestellt worden zu sein. Da der Osthafen nicht mehr infrage kommt, bliebe möglicherweise nur noch ein Terrain an der Autobahn A 5 übrig. Vielleicht jenes, auf dem Planungsdezernent Mike Josef seine „Josefstadt“ errichten möchte. Auf diese Weise käme auch Frankfurt zu einem „Theater in der Josefstadt“ einschließlich altem Glasfoyer und Goldwolken. In Wien würde man sich verwundert die Augen reiben. Und befürchten müssen, dass eines nicht ganz fernen Tages, dann, wenn das Josefstadt-Theater Ruine geworden ist, man in Frankfurt den Bau eines Burgtheaters in Erwägung ziehen könnte – mitten in der Stadt, auf den Fundamenten der verrotteten neuen Altstadt. Denn „alles, was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht“. Mit diesem Satz aus Goethes Faust beginnt ja die zweite Strophe der inoffiziellen Stadthymne.
Tatsächlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese Vorgänge lediglich die Generalprobe eines Stückes seien, das sich Magistrat und Stadtparlament zur Unterhaltung der Bevölkerung ausgedacht hätten. Getreu dem altbewährten Ablenkungsrezept der Herrschenden: Brot und Spiele für das Volk.
Ein weiteres Stück befindet sich bereits in der letzten Planungsphase. Da die SPD bei der Kommunalwahl im März mit einer erheblichen Niederlage rechnet und sich auf die Abwahl ihrer Dezernenten einstellen muss (Was wird dann aus der Josefstadt?), bastelt man an einer unkonventionellen Strategie. Der direkt gewählte Oberbürgermeister kann gemäß hessischer Verfassung den Zuschnitt des Magistrats bestimmen und ist auch befugt, ehrenamtliche Stadträte zu ernennen und sie mit offiziellen Aufgaben zu betrauen. Dem von der Stadtverordnetenversammlung neu gewählten hauptamtlichen Magistrat stünde dann eine nebenamtliche Regierung gegenüber.
Da ist die Frage erlaubt, warum die SPD ihre Kreativität nicht in ihre Dezernate eingebracht und auf echte Veränderung gesetzt hat. Anstatt fünf Jahre die Fortsetzung einer absurden Bildungs-, Kultur-, Planungs- und Verkehrspolitik zu betreiben, die ihr der schwarz-grüne Vorgänger als ruinöse Strukturen hinterlassen hatte.
Foto:
Stimmzettel für die Volksabstimmung zur Schuldenbremse 2011
© Hessische Landesregierung