Die Organisation Bechol Lashon plädiert für ein weltoffenes und multikulturelles Judentum in einem Amerika, dass sich neu herausfordert findet im Umgang mit verschiedenen Ethnien und Kulturen
Julian Voloj
New York (Weltexpresso) - Bechol Lashon, Amerikas wichtigste jüdische Organisation, die sich darauf konzentriert, das Bewusstsein über die ethnische und kulturelle Vielfalt «jüdischer Identität und Erfahrung» zu propagieren, hat eine neue Leiterin. Marcella White Campbell ist die erste Afroamerikanerin, die die 20 Jahre alte Organisation leiten wird. Die Bekanntmachung am Martin Luther King, Jr. Day, dem amerikanischen Feiertag, der den ermordeten Bürgerrechtler ehrt, war ein symbolischer Akt.
Bechol Lashon (der hebräische Name lässt sich als «in allen Sprachen» übersetzen) wurde im Jahr 2000 als eine Initiative des Institute for Jewish and Community Research, einem von dem mittlerweile verstorbenen Brandeis-Professor Gary Tobin geleiteten Thinktank, gegründet und zwei Jahrzehnte von dessen Ehefrau Diane Tobin geleitet. Der Name impliziert, dass Judentum eine weltweite Kultur ist, die ein Teil der Landeskultur wurde.
Plädoyer für Paradigmenwechsel
Drei Jahre vor der Gründung begann die eigentliche Entstehungsgeschichte der Organisation. 1997 adoptierten die in San Francisco lebenden Tobins einen afroamerikanischen Jungen, der Inspiration für eine Studie zur Diversität der jüdischen Gemeinde Nordamerikas wurde. Das Institut hatte zuvor bereits eine bahnbrechende Studie zum Verhältnis junger amerikanischer Juden zu Israel erstellt, die einer der Auslöser für die Gründung von Birthright Israel wurde. Als die im Jahr 2000 unter dem Titel «Study of Racial and Ethnic Diversity of the American Jewish Community» veröffentlichte Studie feststellte, dass etwa zehn Prozent von Amerikas Juden Sephardisch und Mizrahi, und weitere zehn Prozent Afroamerikaner, Latinos, Asiaten oder gemischten familiären Ursprungs sind, erwartete man, dass die jüdische Gemeinschaft ähnlich reagieren würde. Doch die Studie, die unter anderem unterstrich, dass Übertritte zum Judentum, Mischehen und, wie im Fall der Tobins, Adoptionen von Kindern, die nicht die gleiche Hautfarbe wie ihre Eltern haben, Teil des amerikanischen Alltags sind, wurde weitgehend von jüdischen Organisationen ignoriert.
«Bechol Lashon plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie Juden sich selbst sehen und von anderen gesehen werden», erklärt Tobin. «Juden sind ein multikulturelles Volk, das seit Jahrtausenden auf der ganzen Welt verteilt lebt. Wir helfen dabei, dies als integralen Bestandteil der jüdischen Identität zu etablieren.»
Was als Grassroots-Initiative in San Francisco anfing, entwickelte sich in zwei Jahrzehnten zu einer landesweit funktionierenden Organisation, die unter anderem ein Ferienlager für «Jews of Color» – ein Sammelbegriff für verschiedene «nicht weiss-aschkenasische» Identitätsgruppen – betreibt, Lehrpläne für jüdische Schulen erstellt und eine eigene Publikation führt, die als Sprachrohr solcher Juden angesehen wird.
Als 2011 der Dachverband jüdischer Organisationen in New York, die UJA-Federation, eine eigene Studie durchführte, kam man zu ähnlichen Ergebnissen wie bereits ein Jahrzehnt zuvor bei Bechol Lashon. Seitdem hat hier, wie auch anderswo in den Vereinigten Staaten, ein Umdenken innerhalb der jüdischen Gemeinschaft stattgefunden und Institutionen wollen zunehmend multikulturelles Judentum feiern.
Wichtiger denn je
Letzten Sommer, als nach der Ermordung von George Floyd überall im Land Solidaritäts-bekundungen mit der schwarzen Bevölkerung stattfanden, wurde Bechol Lashon plötzlich politisch aktiv. Campbell erinnert sich: «Es war das erste Mal, dass die Abrechnung mit Rassismus innerhalb und ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft wirklich im Mittelpunkt stand.» Für Tobin war es klar, dass Bechol Lashon nicht länger von einer weissen, sondern von einer farbigen Vorsitzenden geleitet werden sollte und bot Campbell die Führungsposition an.
Die beiden hatten sich vor zehn Jahren auf einer Purimfeier im jüdischen Gemeindezen-trum von San Francisco kennengelernt. Campbell war erstaunt, als Tobin ihr von Bechol Lashon erzählte. «Ich war es gewohnt, auf jüdischen Veranstaltungen die einzige Farbige zu sein. Mein Ehemann ist ein weisser, aschkenasischer Jude. Er hat noch nie ein Problem gehabt, wenn wir auf jüdische Veranstaltungen gehen. Egal wo auf der Welt, niemand zweifelt seine jüdische Identität an. Dies ist nicht meine Erfahrung.» Campbell war fasziniert von der Arbeit, die Tobin und ihre Organisation machten, und meldete kurzentschlossen ihre Tochter für Camp Bechol Lashon an, das von Tobin gegründete, einzige multikulturelle jüdische Sommerferienlager. «Seitdem sind wir Teil der Bechol-Lashon-Familie.» Vor sechs Jahren wurde Bechol Lashon auch beruflich für Campbell eine neue Heimat. Nach Jahren im Silicon Valley arbeitete sie nun an Lehrplänen für jüdische Schulen und anderen Ressourcen, die multikulturelles Judentum zelebrieren.
Campbell wuchs nicht jüdisch auf, sondern konvertierte vor über 20 Jahren. «In unserer Familie gibt es Baptisten und Zeugen Jehovas, aber ich wurde nicht besonders religiös erzogen.» Als sie 15 Jahre alt war, begleitete sie jüdische Freunde zu einer Feier. «Ich war vorher noch nie in einer Synagoge gewesen. Ich schaute mich um, setzte mich hin und schlug ein Gebetbuch auf.» Die Seite, die sie öffnete, hatte das Kaddisch-Gebet. «Das war ein paar Monate, nachdem meine Grossmutter, der ich sehr nahestand, gestorben war.» Das Kaddisch-Gebet auf Englisch zu lesen, half ihr, mit ihrer persönlichen Trauer, mit der sie sich bis dato nicht auseinandergesetzt hatte, zurechtzukommen.
«Ich war wirklich sehr bewegt von dem, was ich las.» In diesem Moment entschloss sich Campbell, zum Judentum überzutreten. «Ich schleppte meine Mutter zu einem Rabbiner, doch der sagte mir, komm wieder, wenn du erwachsen bist.» Er gab ihr einiges an Literatur und Campbell musste warten, bis sie volljährig war, um Jüdin zu werden. Und nun ist Marcella White Campbell die erste afroamerikanische Jüdin, die eine landesweite jüdische Organisation leitet.
«Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass Rassismus buchstäblich eine existenzielle Bedrohung für die Vereinigten Staaten ist. Daher ist unsere Arbeit wichtiger denn je», weiss Campbell. «Vor allem auch als Mutter von zwei jungen Erwachsenen, die schwarz und jüdisch sind.» Es liegt noch viel Arbeit vor ihr, aber auch viel Optimismus für eine bessere Zukunft.
Foto:
Marcella White Campbell ist die erste afroamerikanische Leiterin von Bechol Lashon
© tachles
Info:
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 12. 2. 2021
www.globaljews.org