Bildschirmfoto 2021 02 20 um 01.35.50Österreichische Juden nach Israel und zurück 

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Wiens Juden sollen per Charterflug in Israel geimpft werden – eine Initiative, die eine ethische Debatte und die Frage nach der Solidarität der jüdischen Bürger mit ihren Wohnländern und Eigeninitiativen aufwirft.

Seit November hat der Europäische Jüdische Kongress (EJK) sich intensiv bemüht, Impfstoffe zu erhalten für die jüdischen Gemeinden in Europa. Der Vizepräsident Ariel Muzicant bestätigt Recherchen von tachles. Aufgrund rechtlicher und vertraglicher Situationen allerdings sei es nicht möglich gewesen, Impfstoff zu bekommen. Auch ein Versuch von EJK-Präsident Mosche Cantor, von Russlands Präsident Vladimir Putin den russischen Impfstoff zu erhalten hat nicht gefruchtet, wie verschiedene Funktionäre gegenüber tachles bestätigten.

Muzicant, der zugleich als Ehrenpräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien fungiert, ließ sich allerdings nicht entmutigen und sorgt in diesen Tagen für eine Debatte unter jüdischen Gemeindeverantwortlichen. Er verhandelt mit dem israelischen Gesundheitsministerium über eine Initiative, Mitglieder der Wiener Gemeinde per Charterflug nach Israel zu bringen und noch vor Pessach impfen zu lassen. Jeweils ein Flug, Impfung am Flughafen Ben Gurion, ohne Einreise, drei Wochen später für die zweite Impfung nochmals. Kostenpunkt 800 Euro für beide Flüge. Ob das letztlich klappen wird, stellt Muzicant selbst in Frage: «Ich möchte nicht zu viel Hoffnungen wecken. Es sind viele rechtliche, logistische und technische Fragen offen.»

Die Behörden in Wien seien informiert und begrüßten die Initiative. Das Programm richtet sich an die Gemeindemitglieder zwischen 16 und 65. Bis Pessach seien die Risikogruppen in Wien geimpft. Die älteren Mitglieder ab 75 Jahren und jene in den jüdischen Altersheimen hätte die Gemeinde schon geimpft. Nun geht es um die Jüngeren. An der Eigeninitiative zweifelt Muzicant keine Sekunde und sagt kämpferisch: «Wir sind in Funktionen gewählt. Wir tragen Verantwortung. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass keine Schwestern und Brüder erkranken. Für unsere Mitglieder müssen wir alles tun.» Für Muzicant steht das Prinzip nicht zur Disposition, er kümmert sich um Praktisches, wie etwa geltende Quarantäneauflagen in Israel und Österreich Ländern aufgehoben werden können, wie ein geltender Impfpass erstellt werden und in welchem isolierten Gebäude auf dem Flughafengelände geimpft werden kann.


Praktische und ethische Fragen

Wie praktikabel die Initiative ist, wird sich zeigen. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München Charlotte Knobloch fragt in einem Rundmail in der eigenen Gemeinde schon mal an, ob es in der Gemeinde Interesse an einem solchen Impfausflug gäbe: «Bitte teilen Sie uns telefonisch oder als Antwort auf diesen Newsletter mit, ob Sie zu einer Teilnahme bereit wären.» Die eigene Gemeindeverwaltung erfuhr per Newsletter vom Vorhaben, das in vielen Teilen unausgegoren ist und zumindest spannende Fragestellungen aufwirft. Von einigen anderen jüdischen Gemeinden kommt allerdings harsche Kritik. Muzicant lässt sich nicht beirren und sagt: «Wir wollen Menschenleben retten. Das ist Programm.»

Experten bleiben weit über die logistischen Fragestellungen skeptisch und haben Bedenken bezüglich der Rechtmässigkeit des Unterfangens, wenn etwa geltende Verordnungen wie Quarantäne oder auch ein schrittweises Impfen von Altersgruppen umgangen werden könnte. Spannender sind allerdings neben den legalistischen die ethischen und moralischen Fragen des Programms, an dessen Ausgangspunkt eine positiv ethnische Definition steht.


Reaktionen aus der Schweiz

Während die einen in der Initiative eine Art lebensrettenden makkabäischen Akt sehen, stellen andere Grundsatzfragen. So etwa André Bollag, der ehemalige Präsident der jüdischen Schule Noam, des Keren Hajessod Zürich und Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ): «Den jüdischen Mitbürgern wird immer wieder eine Doppel-Loyalität vorgeworfen. Sind wir z.B. Schweizer Juden oder sind wir jüdische Schweizer? Ethnisch gebundene Programme in dieser Situation sind nicht hilfreich und vermitteln auch ein falsche Signal. Das sollten gerade Jüdinnen und Juden, die leider die umgekehrte Erfahrung machen mussten, am besten wissen.»

Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) sagt auf Anfrage von tachles zur Initiative: «Der SIG steht einer solchen Idee kritisch gegenüber. Im Sinne einer solidarischen Bekämpfung der Pandemie sollte man sich an den jeweiligen Impfverteilschlüssel im eigenen Land halten. Die Pandemie ist nur gemeinsam und in Zusammenarbeit mit den Behörden zu meistern.»

Der amtierende ICZ-Präsident Jacques Lande argumentiert ähnlich: «Wir können uns doch als jüdische Gemeinschaft nicht um Anerkennung bemühen und uns im ersten kritischen Moment Vorteile verschaffen.» Für die ICZ sei keine Impfaktion geplant. In Zürichs jüdischen Altersheimen seien alle Bewohnerinnen und Bewohner geimpft. Im Übrigen vertraue man auf die kantonalen Impfungen.

Derweil wartet Muzicant noch auf eine definitive Antwort aus Israel. Dort dreht sich im Moment alles um die vorgezogenen Neuwahlen. Da muss anderes hinten anstehen.

Die Pandemie hat viele Grundsatzfragen aufgeworfen. Mit Muzicants Initiative auch jene über das jüdische Selbstverständnis in Europa.

Foto:
Impfen per Flugzeug und wieder zurück
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 21.2. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG