Das neue linke Fuhrungs DuoSusanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler führen die LINKE

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – CDU, FDP und Grüne mobilisieren erfolgreich den Durchschnittsbürger, gelegentlich auch Spießbürger genannt, damit die Privilegierten privilegiert bleiben können.

Dieses Kalkül beruht auf der empirischen Erfahrung, dass ein kleiner Spießer am liebsten ein großer Spießer werden möchte. Dass er seinen Anteil an Korruption und Vetternwirtschaft reklamiert und sich ebenso illegale Vorrechte aneignen möchte wie andere, die das bereits geschafft haben. Indem sie diese Begehrlichkeiten fördern und unterstützen, gelingt es den besitzbürgerlichen Parteien, die objektiv lediglich Minderheiten repräsentieren, die klassen- und schichtenübergreifende Habgier als gemeinsames Interesse zu verankern. Und mit dieser Strategie Wahlen zu gewinnen.

Eine ernst zu nehmende LINKE hingegen sollte die kritische Intelligenz versammeln, um die ökonomischen Widersprüche aufzulösen, welche Auslöser der meisten Konflikte in Deutschland und der Welt sind. Damit würde sie sich in die Tradition ihrer Vordenker stellen. Karl Marx, Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht, Paul Lafargue, Franz Mehring, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky oder Clara Zetkin gehörten nicht dem dritten Stand an. Schon gar nicht die Neo-Marxisten der „Frankfurter Schule“. Aber sie alle wollten dessen Elend beenden und seine Entstehungsvoraussetzung, nämlich das kapitalistische System, ein für alle Mal überwinden. Dazu bedarf es damals wie heute der realen Utopie von einer gerechten und solidarischen Gesellschaft, einer ausbalancierten Gesinnungs- und Verantwortungsethik und einer klaren politischen Strategie. Letzteres bedeutet auch, dass die politischen Aussagen der Komplexität der Wirklichkeit entsprechen müssen. Vereinfachungen werden das Gegenteil dessen bewirken, was Linke eigentlich erreichen möchten.

Wenn sich beispielsweise ein überdurchschnittlich hoher Anteil ihrer Sympathisanten für die rasche Aufhebung des Lockdowns ausspricht und Kontaktbeschränkungen als derzeit wirksamstes Mittel gegen das Corona-Virus ignoriert (von der leider nur schleppend angelaufenen Impfung einmal abgesehen), ist das ein Hinweis darauf, dass rechter Populismus längst auch an einigen Grundüberzeugungen dieser sozialistischen Partei zu nagen beginnt.

Einen ähnlichen Unterton konnte man vor vier Jahren aus Sarah Wagenknechts Bemerkungen über die syrischen Flüchtlinge heraushören. Zumindest indirekt bekräftigte sie die Befürchtungen mancher Bürger, denen zufolge die Schutzsuchenden zu Lasten Einheimischer untergebracht und versorgt würden. Der Beifall der AfD war ihr seinerzeit sicher.

Für problematisch halte ich die generelle Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen der NATO. Vielmehr sollte die LINKE die Nagelprobe machen, also sämtliche Aspekte des so genannten Bündnisfalls durchspielen und dadurch die Befürworter von Militäreinsätzen herausfordern. Bisher machte sie es diesen viel zu einfach. Schließlich wurde die Gründung der NATO nicht nur mit der vermeintlichen Expansionspolitik der Sowjetunion und ihrer Satelliten gerechtfertigt. Ihr Selbstverständnis enthält ebenso die Verpflichtung der demokratischen Staaten gegen Menschenrechtsverletzungen durch autoritäre Gewaltherrscher allgemein. Könnte deswegen ein Kommandounternehmen gegen den Menschenschinder Erdogan ethisch und formal vertretbar sein? Oder eine militärisch unterstützte Zurechtweisung von Ungarns Orban oder der katholisch-nationalistischen PIS in Polen? Ein Vorliegen des Bündnisfalls wäre auch denkbar, wenn den Bürgern der NATO-Staaten systematisch Steuergelder entzogen werden, die in hinreichend bekannten ausländischen Steueroasen landen und auf normalen Wegen kaum noch rückholbar sind. Hier geht es um Summen in der Größenordnung von einigen Billionen Euro.

Krieg ist nach Clausewitz‘ Verständnis die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das war vor 190 Jahren. Wer denn anders als eine demokratische und international orientierte LINKE, welche jede Form von Herrschaft und Macht infragestellt, könnte dazu fähig sein, kriegerisches Handeln selbst neu zu definieren. Beispielsweise, indem sie zwischen objektbezogener und grundsätzlich zu verwerfender pauschaler Gewaltanwendung unterscheidet. Also typische Polizeiaufgaben auf internationale Sicherungsmaßnahmen überträgt.
Eine solche LINKE, die tatsächlich fähig wäre, über ihren eigenen langen Schatten zu springen, sollte außerdem das nachholen, was sie seit dreißig Jahren versäumt. Nämlich den Verrätern des Sozialismus in Moskau die Leviten zu lesen und sie das Fürchten zu lehren.

Für Karl Marx, den geistigen Urgroßvater der Sozialisten, ist das Proletariat dadurch gekennzeichnet, dass es kein Eigentum an den Produktionsmitteln besitzt. Wenn es ihm gelingt, sich seiner Fesseln zu entledigen und keine neuen Privilegien schafft, würde es dadurch auch alle anderen Benachteiligten befreien. In diesem Sinne müsste der Begriff Proletariat eine zusätzliche Deutung erfahren, nämlich als Avantgarde einer politisch bewussten und solidarisch handelnden (Welt-) Bevölkerung.

Es gibt viel zu tun für die LINKE, speziell für ihre beiden neuen Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler. Ohne einen hohen Grad an Verwegenheit, also an unkonventionellem Handeln, wird ihnen das nicht gelingen. Falls sie das, was zu tun ist, klug anstellen, könnte das Vorbild für andere Linke außerhalb der LINKEN sein.

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Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler
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