Bildschirmfoto 2021 03 06 um 00.12.47IM GESPRÄCH: Michael Fried, emeritierter Professor am Universitätsspital Zürich, zu Grundsatzfragen während der Pandemie

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - tachles: Die Pandemie wirft seit Anbeginn viele ethische Fragen auf. Was mit der sogenannten «Triage» von Patienten begann, mündet in eine Vielzahl anderer Fragen. Wie erleben Sie die Debatte?

Michael Fried:
Bei einer Pandemie dieses Ausmasses mit Toten und langzeitgeschädigten Patienten ist eine solche Debatte wichtig. Es müssen allerdings die richtigen existentiellen Fragen verhandelt werden. Dass die Debatte mit «Triage» und Ausschliessung von älteren Patienten vom Gesundheitssystem begann, zeigte die falsche Fragestellung nach dem Motto «Wen lassen wir sterben?» anstatt «Wie retten wir alle?». Ein Jahr später nun debattieren wir über sogenannte «Impfdrängler», anstatt einen ethischen Weg zu finden, Impfstoff für alle weltweit zu besorgen.


Am Dienstag sprach sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegen Selbstschnelltests aus mit der Begründung, dass positive Resultate nicht gemeldet würden. Passt dieses Menschenbild zur liberalen Tradition der Schweiz?

Testen ist im Moment das Wichtigste. Ich fand diese Äusserung befremdlich und nicht nachvollziehbar. Es geht von einem paternalistischen Obrigkeitsdenken aus, dass ich ablehne. Selbstverantwortung ist Teil unserer Gesellschaft und unseres Staates. Diese Tests sind selbst mit Unsicherheiten besser als keine. Das BAG versagt beim Tracing, der Impfstoffbesorgung oder bei der Vorbereitung auf die Pandemie. Mündigen Bürgern sollte anders begegnet werden.


Über Jahrzehnte galt die jüdische Medizinethik als wichtige Stimme bei Fragestellungen im Umgang mit medizinischer Entwicklung und letztlich Leben und Tod. Gerade während der Pandemie ist davon wenig zu hören. Weshalb?

Es wäre wichtig gewesen, wenn sich, angesichts der weltweiten Herausforderungen, gerade auch innerhalb der jüdischen orthodoxen Gemeinschaften diese wichtigen jüdischen ethischen Stimmen melden würden. Es gab auch einzelne Wortmeldungen. Doch konnten sie eben nicht fundamental in die Debatte eingreifen mit der Art Lebensbejahung, die sie sonst ausmacht.


Sie haben Einblick in jüdische Institutionen und die Situation etwa bei jüdischen Altersheimen. Wie ist die generelle Situation im Kontext von Corona?

Die Massnahmen wurden sehr heterogen und nicht einheitlich umgesetzt. Zum Teil wurden Schutzmassnahmen massiv übertrieben, wie etwa das Aufstellen doppelter Schutzzäune. Zum anderen gab es einen sorglosen Umgang mit positiv getesteten Fällen unter dem Personal. Es ist wichtig, dass Sicherheit und Würde im Umgang mit Patienten und Familienangehörigen unter einen Hut gebracht werden. Dazu gehört auch die bevorstehende Debatte, dass gerade Pflegekräfte sich impfen lassen und damit nicht nur sich selber, sondern auch ihre Patienten schützen, über die gute Betreuung hinaus. Da ist noch einige Überzeugungsarbeit ohne Zwang nötig.


Seit einigen Wochen mehren sich jüdische Initiativen für einen eigenen Weg zur Impfung. Die jüdischen Gemeinden Wien und München wollen Mitglieder per Charter nach Israel fliegen. Der Europäische Jüdische Kongress wollte Impfstoff für jüdische Gemeinden etc. Wo sollen sich jüdische Institutionen zwischen den Grundsätzen «pikuach nefesch» («Leben retten») und «dina demalchuta dina» («das Gesetz des Landes ist Gesetz») positionieren?

Beide Prinzipien sind sehr wichtig. Das eine sollte aber nicht gegen das andere ausgespielt werden. Die genannten Eigeninitiativen für Impftourismus lehne ich in dieser Form aus ethischen und medizinischen Gründen ab. Wir alle sind Bürger eines Landes, an dessen Impfvorgaben wir uns halten sollen. Die Religion darf beim Impfen keine Rolle spielen. Mit solchen Initiativen bilden Bürger Separatismus, wo eigentlich Solidarität gefragt wäre.


Was aber, wenn der Staat nicht vorwärts macht und zu wenig Impfstoff da ist: Ab wann ist Eigeninitiative legitim?

Leben retten um jeden Preis ja. Aber nicht impfen um jeden Preis. Ja, es gibt in vielen Ländern politisches und behördliches Versagen. Das legitimiert aber keine Sonderwege. Allerdings schaue ich mit grossem Unverständnis auf Swissmedic, die verspätet Impfstoff zulässt oder sogar die Zulassung verweigert, während diese von der amerikanischen FDA oder der europäischen EMA, den Zulassungsbehörden, gewährt werden. Die Schweiz spielt mit einer Pseudo-Autonomie, die in einer solchen Notsituation Menschenleben aufs Spiel setzt. Wir müssen die Diskussion transparent führen, weshalb die Schweiz so wenig Impfstoff hat, und begangene Fehler offen diskutieren.


Die orthodox-jüdische Gemeinschaft ist weltweit hart von der Pandemie getroffen worden. Wieso konnte das jüdische Gebot «Leben retten» die Charedim nicht besser schützen?

Ich erlebe die Situation in Zürich anders: In meiner Praxis behandle ich viele charedische Patienten und beobachte, dass orthodoxe Patienten in Zürich sich in hohem Masse an die Schutzmassnahmen halten. Zugleich wissen wir, dass soziale Strukturen mit grossen Familien und beengten Raumverhältnissen zu höheren Ansteckungen führen. In Zürich haben die Rabbiner schnell und richtig entschieden und im vergangenen Jahr den Ernst der Lage rasch erkannt.


Der Leiter des deutschen Robert-Koch-Instituts hat diese Woche nach eigenen Aussagen ein Tabu gebrochen, indem er darauf hinwies, dass der Hauptteil der Intensivpatienten in deutschen Spitälern einen Migrationshintergrund habe. Wie ist das mit der Ethik eines Arztes vereinbar?

Die Stigmatisierung von einzelnen Patientengruppen ist gefährlich und stand schon am Beginn der Pandemie, etwa mit der Beschuldigung von Kindern oder später älteren Menschen, als völlig falscher Diskussionsausgangspunkt da. Soziale Ungleichheit führt zur Häufung von Fällen in einzelnen Gruppen. Das sahen wir eben auch bei den Charedim weltweit. Es ist nicht die Aufgabe des RKI, mit wissenschaftlichen Daten Politik oder gar Populismus zu betreiben, sondern Grundlagen zu schaffen, damit alle Menschen mit den richtigen Mitteln aufgeklärt und mitgenommen werden können. Dazu gehören vertrauensbildende und nicht die Gesellschaft trennende Massnahmen.


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Der Zürcher Arzt Michael Fried plädiert für ein Umdenken in der ethischen Debatte über die Pandemie.

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5.3. 2021