Bildschirmfoto 2021 05 31 um 22.49.54Der Sonntagabend sah in Israel eine geballte Ladung parlamentarischer Dramatik, wie das Land sie seit Jahren nicht erleben durfte

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Es gab gleich zwei Live-Auftritte von Naftali Bennett und Premierminister Binyamin Netanyahu im Vorfeld der letzten drei Tage des Wahlkampfes bis am Mittwoch der Entscheid von Staatspräsident Reuven Rivlin zu erwarten ist. Zuerst ergriff  Yamina-Chef, und erster Premierminister der möglicherweise neuen Regierung unter ihm und Oppositionsführer Yair Lapid das Wort. Eindringlich versuchte Bennett das Volk davon zu überzeugen, dass eine Einheitsregierung auch dann eine solche ist, wenn sie nur von einem Teil der Wähler getragen wird.

Lange haben die Israeli nicht mehr Zeit, oder anders ausgedrückt: Sie müssen bis Mittwoch Mitternacht so weit sein, um die von Bennett und Lapid vorgeschlagene Regierungsvariante zu unterstützen. Bis dahin dürfte der Druck von rechts auf jeden einzelnen der sechs Yamina-Kandidaten weiter zunehmen. Dabei dürfte Ayelet Shaked ganz besonders vom Netanyahu-Lager in die Zange genommen werden, da über ihre genaue politische Haltung wenig Genaues bekannt ist. Naftali Bennett liess im Verlauf seiner Ausführungen keine Zweifel offen und bekannte sich offen zum Projekt mit Yair Lapid. Er habe «keine andere Wahl», sagte er halbherzig als Entschuldigung für seinen de facto Absprung vom Rechtslager.

Binyamin Netanyahu seinerseits bestätigte denn auch, was der Öffentlichkeit schon seit längerer Zeit bekannt war: Seinen Gegnern geht es in erste Linie um seine Entfernung aus Amt und Würde und erst dann um ihre Möglichkeit, das Land politisch leiten zu können. Dass er am Sonntag dabei vor allem Bennett mit Schimpfworten wie «Lügner» oder «Heuchler» übergoss, gab dem ganzen Anlass einen arg emotionalen Anstrich und hinterließ wenig Gutes übrig an der Beurteilung von Netanyahus Auftritt.

Nach den Ausführungen von Naftali Bennett und Premier Netanyahu taten sich die führenden israelischen Journalisten schwer, zu beurteilen wer denn nun der bessere Redner gewesen ist. Keiner hat nach Ansicht der Medienschaffenden den so genannten Rubikon bereits überschritten, aber Anschel Pfeffer (Haaretz) ist immerhin so mutig, Bennett zuzugestehen, dass er das Ufer des historischen Flusses erreicht habe. Oder, in anderen Worten: Es war so etwas wie ein entscheidender Meilenstein. Insofern ist die Katze jetzt auch offiziell aus dem Sack: Die Gegner Netanyahus haben es in erster Linie auf die Entfernung des seit rund 12 Jahren im Amt sitzenden Netanyahu abgesehen und nicht auf irgendein zweitrangiges politisches Detail.

Möglicherweise verbirgt sich hinter der wachsenden Anti-Netanyahu-Stimmung auch die Ablehnung der Vorstellung, dass ein in einen Prozess verwickelter Mann schlecht an die politische Spitze einer Nation passt. Nach Netanyahus Ausführungen muss man zum Schluss gelangen, dass das Duo Bennett-Lapid zwar sehr glaubhaft auftritt, dass der Deal aber frühestens am kommenden Mittwoch endgültig besiegelt sein wird. Mit handfesten Argumenten geizte Netanyahu am Sonntagabend vor der TV-Kamera, oder es hat ihm einfach an überzeugenden Fakten gefehlt. In drei Tagen werden wir auch wissen, ob Noch-Präsident Reuven Rivlin seinen Gefühlen folgen und dem Tandem Bennett-Lapid grünes Licht geben wird, oder ob er davor zurückschreckt und die Israeli auf die lange Strecke eines neuen, fünften Wahlgangs schicken wird.

Foto:
Bennett, der Königsmacher: Zusammen mit Oppositionschef Yair Lapid will er Netanyahu definitiv vom Thron stossen.
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 31. 5. 2021