Corona Lockerungen. Ein WegweiserÜber Trugbilder und menschenfreundliche Strategeme in der Corona-Pandemie

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Covid-19-Infektionen entwickeln sich rückläufig.

Entsprechend senken sich die Werte auf der Messlatte, die Inzidenz genannt wird. Erfreulicherweise geht dieser Trend derzeit einher mit sonnigerem und wärmerem Wetter. Die Außengastronomie darf ab einem stabilen Inzidenzwert unterhalb von 100 öffnen, in Bundesländern mit Inzidenzen unterhalb von 50 dürfen Restaurants auch in den Innenräumen servieren. Vollständig Geimpfte und nachweislich Genesene haben uneingeschränkten Zugang, andere müssen ihren Coronastatus mit einem Test nachweisen, der vielfach auch direkt vor Ort durchgeführt werden kann. Die Innenstädte sind deutlich stärker frequentiert als in den vorangegangenen Monaten, auch wenn vielfach nur vorab vereinbarte Ladenbesuche möglich und Masken- und Abstandspflicht nach wie vor gültig sind. Erst ab der Stufe 2 greifen die großzügigeren Regeln, die bislang nur für Geschäfte gelten, die Waren zur Grundversorgung anbieten.

In der Bevölkerung gibt es einen Stimmungsumschwung. Den berücksichtigen insbesondere Hörfunk und Fernsehen in ihrer Berichterstattung, ja, sie lechzen geradezu danach. Vor allem die dritten TV-Programme, aber auch Polit-Talks wie „Anne Will“, „Hart aber fair“ und „Maybrit Illner“ quellen über von Interviews mit vermeintlichen Normalbürgern, die ob der wiedergefundenen Freiheit euphorisch werden. „Ich kann wieder leben“ jauchzt eine junge Frau der Reporterin in Mikro und Kamera. Und sie ergänzt bedeutungsvoll „Endlich wieder Party!“. Solche Szenen laufen von West bis Ost, von Nord bis Süd. Nur gelegentlich werden sie von den Stimmen besorgterer Bürger unterbrochen, die darauf hinweisen, dass die Pandemie längst noch nicht überwunden ist und Vorsicht sowie Rücksicht weiterhin geboten sind.

Zugegeben: Ein gewisser Grad an Freude ist berechtigt. Viele sind nicht erkrankt oder haben eine Infektion ohne Folgen überwunden. Ein „Hurra, wir leben noch!“ wäre durchaus angebracht. Verbunden mit dem Hinweis, dass dieses Davongekommensein einer strengen und langen Disziplin zu verdanken ist. Also exakt den Maßnahmen, die von Querulanten als „Corona-Diktatur“ diffamiert werden. Und einer Impfkampagne, die zwar immer wieder Unzulänglichkeiten in der staatlichen Verwaltung offenbart, aber dennoch sehr erfolgreich ist. Zu erinnern wäre auch an die mehr als 88.000 Verstorbenen sowie an die mutmaßlich 450.000 Menschen, die möglicherweise noch längere Zeit mit Spätfolgen der Seuche zu kämpfen haben werden. Etwa mit dem Chronic-Fatigue-Syndrom CFS, einer Erkrankung, die mit Schmerzen, Schwäche und Konzentrationsstörungen einhergeht und ein normales Alltagsleben erheblich einschränkt oder es sogar unmöglich macht.

Die Corona-Pandemie gibt Anlass, eine alte philosophische und ethische Doppelfrage erneut und mit aller Deutlichkeit zu stellen: Freiheit von was oder wem? Freiheit wozu?

Die Lockerung der Einschränkungen darf kein Freibrief für Partys und Saufgelage oder ähnliche Rücksichtslosigkeiten sein. Das gilt auch für den neurosenhaften Zwang, jedes Event unbedingt wahrnehmen zu wollen (der Corona-Hotspot Ischgl darf in diesem Zusammenhang als typisch gelten). Ebenso eine Mobilität, deren Ziel lediglich das Unterwegssein ist. Oder die Flucht in die Ferne, die nichts anderes bedeutet als die Verlagerung der Eintönigkeit in ferne Landstriche. Auch subaltern Beschäftigte müssen lernen, ihren alltäglichen Frust nicht durch Hyperaktivitäten in der Freizeit zu verdrängen, sondern dessen Ursachen in den Griff zu bekommen. Es bestehen durchaus Chancen für ein neues Bürgerbewusstsein, das als positive Folge aus der Seuche hervorgehen könnte. Denn die Pandemie hat Schwächen und Fehlverhalten dieser Gesellschaft offengelegt. Deswegen sollte sie nicht nur mit einem Sieg über das Virus enden, sondern der Beginn einer Neubesinnung sein. Der neue, freiheitsbewusste Citoyen verzichtet bewusst auf Brot und Spiele. Er strebt nach Bildung und Kultur, nimmt am gesellschaftlichen Dialog teil, fühlt sich dem Gemeinwohl verpflichtet und verhält sich solidarisch.

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Corona-Lockerungen. Ein Wegweiser
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