Bildschirmfoto 2021 06 14 um 03.22.19Ist kaum zu Wort gekommen: neuer israelischer Premierminister Naftali Bennett

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Das denkbar knappe Ergebnis der Vertrauensabstimmung vom Sonntagabend für die neue israelische Regierung Bennett-Lapid (60 für, 59 gegen und eine Enthaltung) war erwartet worden. Das Resultat ist zwar kein Ruhmesblatt doch es erlaubt der neuen Regierung, das Heft in die Hand zu nehmen und zu versuchen, es besser zu machen, als ex-Premier Netanyahu es getan hat. Die Ära Netanyahu endete nach 12-jähriger Dauer. Schenkt man allerdings Netanyahu Glauben, dann will der neue Oppositionschef nichts unversucht lassen, um wieder an die Macht zu gelangen.

Der Abstimmung in Jerusalem vorausgegangen war allerdings ein Ereignis, das einzig als ein großer Schandfleck in die Geschichte der israelischen Politik eingehen wird. Offenbar in sorgfältiger Vorarbeit und professionell einstudiert, entwickelte sich von Beginn der Sitzung an ein pausenloses Pfeifkonzert, verbunden mit einer noch nie dagewesenen Lärm-Kakophonie der verschiedensten Oppositionspolitiker. Der vor seiner Inthronisierung stehende Naftalie Bennett hätte einem fast leid tun können, ließ man ihn doch kaum einen Satz in Ruhe aussprechen. Es darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass Bennett nur mit Nachdruck und viel Hartnäckigkeit zum Amt des Premierministers kam. Ebenso wenig sollte man vergessen, dass die Massen nach Rache sinnen. Werfen sie Bennett, der sich in der neuen Knesset nur gerade auf sechs seiner Abgeordneten verlassen kann, kalten und egoistischen Handel mit Wählerstimmen vor. Mit der Erfüllung seiner Wahlversprechen im Laufe der Wahlkampagne, war es danach auch nicht mehr weit her.

Was Bennetts und Netanyahus Reden betrifft, muss eigestanden werden, dass der nun abgewählte Premier seinem Herausforderer derart klar überlegen war, dass man versucht ist, von einem Klassenunterschied zu sprechen. Netanyahus Ausführungen waren ein Feuerwerk aus Erinnerungen an die in den letzten zwölf  Jahren unter seiner Federführung erreichten Erfolge. Unter ihnen die Aufnahme von Beziehungen zu zahlreichen afrikanischen Staaten, von denen sich einige erst vor kurzem in die Liste der diplomatisch-wirtschaftlichen Freunde des jüdischen Staates einreihten. Dann auch die Erweiterung der wirtschaftlichen Front Israels in Europa, einschliesslich Russlands, und vor allem die weltweiten Erfolge Jerusalems bei der Bekämpfung und letztlich der Besiegung der Corona-Pandemie auf nationaler Ebene. Hinzu kommt die militärische Stärkung Israels, was nicht zuletzt in den Kämpfen gegen die Hamas im Gazasteifen zum Ausdruck kam. Auch inner-israelisch wies Netanyahu auf zahlreiche Erfolge seiner Regierung hin. Allem voran auf die Annäherung zur israelisch-arabischen Gemeinschaft.

Dieser Aufzählung hatte Bennett nichts Konkretes entgegenzusetzen, was aber bei solchen Rededuellen anlässlich eines Amtswechsels nicht verwundern darf. Es sei an dieser Stelle aber doch die Frage gestattet, warum denn Netanyahu bei seinen zahlreichen offensichtlichen qualitativen Vorzügen seinen Widersacher nicht sozusagen kampflos auf die Ränge verwiesen hat. Hier sind wir auf Spekulationen angewiesen: Weite Teile der Israeli suchten allem Anschein nach eine Gelegenheit, Netanyahu die Tatsache heimzuzahlen, dass er trotz seiner Verwicklung in einen komplizierten Prozess nicht daran dachte, freiwillig aufzugeben. Ohne uns in irgendeiner Weise in inner-israelische Angelegenheiten einmischen zu wollen, sei doch die Vermutung gestattet, dass Netanyahu vielleicht eine politische Überlebenschance gehabt hätte, wenn er sich eine Auszeit erbeten hätte, nach welcher er im Falle eines Freispruchs sich mit großen Chancen um das Amt des Regierungschefs hätte bewerben können. Auch die Bewerbung Netanyahus um das Amt des Staatspräsidenten zu einem späteren Termin wäre nicht aussichtslos. Die Antwort auf diese Fragen wird Netanyahu oder werden die Historiker vielleicht in ein paar Jahren selber finden.

Foto:
Zwischenrufe, Pfeifkonzert und Beschimpfungen in der Knesset
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 13. 6. 2021