NRW-Familienminister Stamp plädiert für einen "Tag der Freiheit"
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Delta-Variante dominiert auch hierzulande das Infektionsgeschehen.
Und die Zahl der Infektionen nimmt im Vergleich zum jeweiligen Tag der Vorwoche ständig zu. Die Inzidenz liegt bundesweit bei 10 Erkrankungen pro 100.000 Einwohnern, in Darmstadt sind es 36,3, in Wiesbaden 26,9 und in Frankfurt 26,2 (Werte vom 18. Juli). Die Urlaubsflieger nach Mallorca sind gut gefüllt, obwohl dort der R-Wert mittlerweile bei 1,6 liegt (100 Infizierte stecken 163 bislang Gesunde an). Im Kontrast dazu nimmt die Impfbereitschaft ab, obwohl immer mehr Vakzine verfügbar sind. Während Virologen Alarm schlagen, nicht zuletzt, weil jeder Infizierte der Wirt einer weiteren Mutation des Virus sein kann und vermeintlich Genesene mit Long-Covid zu kämpfen haben, kommen aus der Stadt der Dusseldoofen ganz andere Töne. Sie muten an wie eine groteske Realsatire, deswegen der Karnevalsausdruck für die Landeshauptstadt. Diese ist im Übrigen Spitzenreiter bei den Inzidenzen.
Denn der nordrhein-westfälische Familienminister Joachim Stamp (FDP) hat vorgeschlagen, nach dem Beispiel Englands einen "Tag der Freiheit" auszurufen. Gemeint ist die Freiheit von Corona-Beschränkungen. „In den nächsten acht Wochen haben alle Erwachsenen ein Impfangebot erhalten", sagte Stamp dem Intelligenzblatt "Bild am Sonntag". Zudem gebe es bei Kindern nahezu nur harmlose Verläufe. „Daher könnte der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober, dieses Jahr auch 'Tag der Freiheit und Eigenverantwortung' werden: Alle Beschränkungen werden aufgehoben, alle sind für sich selbst verantwortlich."
Da ist sie wieder, die Eigenverantwortung, welche die FDP immer dann als Universallösung anbietet, wenn ihr nichts mehr einfällt – und das ist die Regel. Sie kostet denen, die sie propagieren, wenig und wenn sie erfolglos bleibt (was überwiegend der Fall ist), zahlen die anderen. Konkret jene, die als Unbeteiligte materiell in die Mitverantwortung gezogen werden. Mit dem Hinweis auf Eigenverantwortung entzieht man sich den Verpflichtungen aus einer Insolvenz, die man selbst, also eigenverantwortlich, heraufbeschworen hat und an der man sich nur mit dem gesetzlichen Mindestanteil beteiligt.
Auf die längst nicht überstandene Corona-Pandemie bezogen bedeutet das Freiheit für Eigennutz und Missachtung jeglicher Solidarität. In den Innenräumen der Gaststätten, in den Fußgängerzonen der Städte, an überlaufenen Stränden, die als Risikogebiete gelten, werden Eigen- und Fremdschutz vernachlässigt. Die Zweitimpfung wird abgelehnt, obwohl Urlaubsreisen anstehen. In dieser Situation des Leichtsinns meldet sich Minister Stamp zu Wort und findet indirekt den passenden dummen Spruch zur Lage: „Der Starke ist am stärksten allein“.
Alleingelassen wurden die Menschen in den Flussregionen Nordrhein-Westfalens und denen von Rheinland-Pfalz, wo der Starkregen dieses Sommers Ortschaften unterspülte, ganze Straßenzüge unbewohnbar machte und Menschenleben kostete. Stamps politische Freunde, aber nicht nur sie allein, haben ein halbes Jahrhundert lang so getan, als blieben Eingriffe in die Natur folgenlos. Die Emission von Schadstoffen aus Industrieanlagen und Kraftfahrzeugen, das Abholzen von Wäldern, um weitere Reviere für den Braunkohleabbau zu gewinnen, gehören dazu. Ebenso die Versiegelung landwirtschaftlicher Flächen, um die Wohnräume zu schaffen, die bei einer gemeinwirtschaftlichen Nutzung städtischer Liegenschaften überflüssig wären. Aber der Immobilienwahn, häufig von Geld aus kriminellen Geschäften angetrieben, endet in jenem typischen Desaster, das aus der griechischen Tragödie bekannt ist: Menschen versuchen alles, um ihrem vermeintlichen Schicksal zu entgehen und führen es gerade dadurch herbei.
Diese Beispiele zeigen, dass die private Aneignung von Lebensräumen, also von Boden, Wasser, Atmosphäre, noch nie in eine humane Gesellschaft passte. Und heute passt sie erst recht nicht mehr. Deswegen ist das so tapfer klingende Wort von der Eigenverantwortung leeres Geschwätz, denn es beinhaltet zwangsläufig das Gegeneinander, wo doch einzig und allein das Miteinander Lebenschancen eröffnet.
Die Vertreter des gar nicht liberalen Liberalismus sollten beherzigen, was mir vor fünf Jahrzehnten ein Wehrmachtsoberleutnant quasi als Quintessenz seiner Kriegseinsätze sinngemäß sagte: Wenn ich als Kommandeur versage, also meine Soldaten in nicht notwendigen Schlachten opfere und ihnen dadurch Leben und Zukunft nehme, muss ich mit meinem eigenen Leben dafür einstehen.
Ja, das wäre die einzige Eigenverantwortung, die ich akzeptiere:
Politiker, steht für das ein, was ihr von den Bürgern fordert oder was ihr ihnen leichtfertig erlasst.
Foto:
Stark frequentiertes Düsseldorfer Rheinufer
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