Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Steuern sollen nach dem Willen der Sondierer aus SPD, Grünen und FDP nicht erhöht werden.
Diese Absichtserklärung stellt das Wesen des Sozialstaats Bundesrepublik unverhohlen in Frage. Unzureichende Einnahmen führten bereits bislang zu strukturellen Defiziten im gesamten öffentlichen Bereich. Von Kindertagesstätten und Schulen über den ÖPNV bis zum Gesundheitssystem und dem geförderten Wohnungsbau. Und sie enden dort noch längst nicht. Jede versiffte und nicht sanierte Schultoilette geht auch auf das Konto von Steuervermeidern wie Christian Lindner und Wolfgang Kubicki, beide FDP.
Fazit: Wer bereits wenig besitzt, sowohl Bürger als auch öffentliche Einrichtungen, wird künftig noch weniger haben. Stattdessen dürfen sich alle, die bereits jetzt komfortabel zu Lasten von Durchschnittsverdienern leben, bald wie im Schlaraffenland fühlen. Wurden die gebratenen Tauben, die durch die Lüfte fliegen, doch vorher den Bedürftigen vom Esstisch gestohlen.
Auch ein moderat angehobener und gesetzlich garantierter Mindestlohn wird an Millionen prekärer Lebensverhältnisse nichts ändern. Die endgültige Verelendung wird diesen Menschen dann drohen, wenn sie ihre Altersrente beantragen. Die dürfte sich dann auf Sozialhilfeniveau bewegen.
Die Stellschrauben des Neoliberalismus, der konsequenten Fortschreibung der „sozialen“ Marktwirtschaft mit drastisch eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten, werden auf breiter Front angezogen. So soll die sogenannte Schuldenbremse endgültig an die Abgabebereitschaft der wirtschaftlich Privilegierten angepasst werden. Damit wird erneut die Ursache der Verschuldung verschleiert. Denn diese entspricht den in Jahrzehnten aufgelaufenen Steuerverpflichtungen der Vermögenden, die der Staat jedoch von diesen nicht eingefordert hat und auch zukünftig nicht einziehen will. Selbst Zukunftsinvestitionen in Bildung, Digitalisierung und Klimaneutralität sollen nur im Rahmen der Schuldenbremse getätigt werden. Zahlmeister für den überfälligen strukturellen Wandel werden die Ärmeren und die unteren Mittelschichten bleiben. So tragen die Kleineren der Größeren Last. Das hört sich nicht nur ungerecht an, es ist reine Ausbeuterideologie.
Auch eine besonders asoziale Spaltung der Gesellschaft wird nicht aufgehoben. Es bleibt bei der Teilung der Krankenversicherung in eine gesetzliche und eine private. Damit ist das Projekt Bürgerversicherung anscheinend beerdigt, noch bevor es überhaupt vorgestellt und erörtert wurde.
Hartz IV wird nur mäßig erhöht, erhält aber einen neuen Namen. Die Transferleistung wird Bürgergeld genannt, wobei die bisherigen Kriterien beibehalten werden. Lediglich auf zu bürokratische Abläufe will man verzichten.
Künftig soll es eine "teilweise Kapitaldeckung" der Rente geben - dazu fließen aus Haushaltsmitteln zehn Milliarden Euro. Faktisch bedeutet dies, dass der staatlichen Rentenversicherung durch Umschichtung potentielle Beitragsgelder entzogen werden. Dadurch würde ein elementarer Bestandteil staatlicher Daseinsvorsorge teilprivatisiert zu Lasten des solidarischen Steueraufkommens. Der Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer, der (damals unterstützt von willfährigen „Experten“ wie Bert Rürup und Bernd Raffelhüschen) bereits Schröders Agenda-Politik tatkräftig unterstützte und daran gut verdiente, hat sich bereits im Vorfeld der Sondierungen bei der FDP durch eine großzügige Spende bedankt.
Die Claqueure der Umverteilung von unten nach oben, die regelmäßig den Milliardenzuschuss aus Steuermitteln in die Rentenversicherung beklagen, schweigen auffällig, wenn die Einhundertprozent-Subvention des Staats für die Beamtenpensionen zur Sprache kommt.
Die Sozialdemokraten haben sich stets als Garant einer ausgewogenen Sozialpolitik verstanden, auch wenn sie diesen Anspruch nicht immer eingelöst haben. Ihren Wahlsieg haben sie mutmaßlich diesem Versprechen und einem in dieser Frage besonders dilettierenden Armin Laschet zu verdanken. Deswegen ist es nicht nachvollziehbar, dass sich die SPD auf diese unsozialen Essentials künftiger Regierungspolitik eingelassen hat – oder einlassen will. Sollte tatsächlich ein Viertel der neuen Bundestagsfraktion aus rebellischen Jungsozialisten bestehen, stünde der Partei eine Palastrevolution ins Haus. Andererseits: Bereits Heinrich Heine attestierte in seinem Gedicht „Zur Beruhigung“ den Deutschen (und indirekt den deutschen Spießern mit sozialem Anstrich) keinen Hang zu einer wirklichen Revolution:
„Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak...
Wir sind Germanen, gemütlich und brav,
Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,
Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,
Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.
Im Land der Eichen und der Linden
Wird niemals sich ein Brutus finden.“
Die Grünen sind mit Forderungen nach einer Abwendung der Klimakatastrophe, nach ökologischer Wirtschaft und einer umweltverträglichen Verkehrswende sowie nach sozialer Gerechtigkeit in den Wahlkampf gezogen. Sie haben dabei den Protest junger Menschen an den herrschenden Verhältnissen, der sich beispielsweise in der Aktion „Fridays for Future“ manifestiert, zu ihrem eigenen Anliegen gemacht. Das hat ihnen in dieser Bevölkerungsgruppe einen bemerkenswerten Zuwachs an Wählerstimmen eingebracht.
Doch diese Rückendeckung, die auch eine Verpflichtung darstellt, scheint das grüne Sondierungsteam nicht sonderlich motiviert zu haben. Der erste und vergleichsweise kleine klimapolitische Schritt mit kurzfristig messbarem Erfolg, nämlich die Geschwindigkeitsbeschränkung von 130 km auf den Autobahnen, erwies sich anscheinend als zu große Hürde. Verkehrspolitische Konfliktpunkte wie der Bau weiterer Autobahnen tauchen in dem Positionspapier erst gar nicht auf. Zwar wird das vorzeitige Ende der Kohleverstromung angesprochen, aber sie scheint zu den unverbindlichen Verabredungen zu zählen. Politisches Handeln wird von den Grünen zur reinen Symbolpolitik degradiert. Das angekündigte Programm zur Klimarettung wird auf ein Globuli zusammengeschmolzen und als Allerheiligstes in einer Monstranz zur Schau gestellt. Fridays for Future kann diese bald allwöchentlich ihren Demos vorantragen. Anstatt die Zukunft zu gestalten, wird ihr Misslingen im Voraus beweint.
Es hat den Anschein, als hätte die FDP diese Bundestagswahl gewonnen. Nicht an der Wahlurne, aber in den Sondierungen.
Foto:
Die Sondierer singen „Requiem aeternam dona eis, Domine“
© Grafik: MRG & WDR
Es hat den Anschein, als hätte die FDP diese Bundestagswahl gewonnen. Nicht an der Wahlurne, aber in den Sondierungen.
Foto:
Die Sondierer singen „Requiem aeternam dona eis, Domine“
© Grafik: MRG & WDR