Yves Kugelmann IM GESPRÄCH mit Noa Sophie Kohler, die das Judentum als Ethnie erforscht
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Ethnien werden zusehends Teil eines Diskurses bei der Entschlüsselung der DNA – die Wissenschaftlerin Noa Sophie Kohler im Interview über Genetik, Judentum und Schawuot.
tachles: Was sind aus wissenschaftlicher Sicht «Juden» – eine Ethnie, eine Kultur, eine Religionsgemeinschaft?
Noa Sophie Kohler: Gerade als Wissenschaftlerin denke ich, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, wenn wir solche Begriffe gegeneinanderstellen, als wären es fest umrissene Einheiten, die sich nicht überlappen. Es gab, aus dem Tanach kommend, schon immer eine religiöse Komponente im Begriff «Volk», und diese Ebene ging auch nie wirklich verloren. «Volk» und «Religion» kann man nicht trennen.
«Am Israel», also das Volk Israel, stammt aus biblischen Quellen. Sind die Juden ein «Volk»?
Es gibt natürlich den Begriff von «Volk» aus dem 19. Jahrhundert, aber auch dieser hat eine Geschichte und sich seither weiterentwickelt. Vieles vom früheren Verständnis ist eingeflossen. Einer der Kernpunkte meiner Arbeit dreht sich darum, dass Menschen vermeintlich über das gleiche Thema reden, die gleichen Begriffe verwenden, aber darunter wirklich verschiedene Dinge verstehen. Man muss sich stets vor Augen halten, dass diese Begriffe eben nicht klar definiert sind.
Was ist nach heutigem Verständnis von «Volk» der gemeinsame Nenner: die Geschichte, die Kultur, oder doch die genetischen Gemeinsamkeiten?
Es gibt einen sehr guten Artikel des Genetikers Raphael Falk. Er sagt, dass wir beim Anstellen von genetischen Vergleichen zwischen Gruppen möglicherweise sehen, dass Juden miteinander näher verwandt sind als mit anderen. Aber das bedeutet nur, dass wir soziale Gruppen anschauen, die eine Geschichte miteinander verbindet und die dadurch miteinander verwandt sind. Das ist aber ganz einfach eine soziale und geschichtliche Entwicklung. Die Frage nach dem Ursprung ist sehr viel komplizierter, und auch die Wissenschaft kann dazu nicht viel Eindeutiges beitragen.
Eine Theorie sieht den Ursprung der Juden in der Levante, also im Gebiet rund um Israel. Ist das richtig?
Diese Forscher meinen zeigen zu können, dass es so ist. Aber es gibt auch andere Theorien, die dem widersprechen.
Wobei es ja sein könnte, dass die Juden in Äthiopien früher da waren, und selbst im Tanach gab es andere Definitionen von «jüdisch». Kann es so überhaupt einen genetischen Ursprung geben?
Das lässt sich so nicht zeigen, denn sogar unsere heutige Definition davon, was Juden sind, ist anders.
Wird mit der Vorgabe des rabbinischen Judentums über die matriarchale Weitergabe des Judentums quasi ein Volkskörper kreiert?
Ja, aber eben wie gesagt: Da fliessen einerseits die Sozialstruktur durch die jüdischen Gemeinden und andererseits die Religion und natürlich die Geschichte zusammen.
Bei Ihnen ist nachzulesen, dass gut die Hälfte von 80 Prozent der aschkenasischen Juden mit gemischten Vorfahren von lediglich vier nicht jüdischen europäischen Frauen abstammt. Was heißt das?
Das ist eine von mehreren Genstudien, die sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Ursprung und der Bevölkerungsgeschichte der weiblichen Linie von aschkenasischen Juden beschäftigen. Diese Studien kommen mitunter zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, und man darf diese Frage nicht als geklärt verstehen, selbst wenn diese Studien so klar argumentieren. Auch arbeiten Forscher mit statistischen, auf- und abgerundeten Werten. Vieles an genetischer Information geht im Laufe der Zeit verloren, wir wissen ja nicht, was wir nicht mehr sehen, da ganze Linien ausgestorben sein können, die wichtige Informationen für uns beinhaltet hätten.
Helfen denn die ellenlangen Stammbäume des Tanach nicht weiter? Sind sie relevant?
Dieses Thema ist für meine Arbeit bislang nicht wesentlich gewesen. Ich kann dazu einzig fragen: Was machen wir eigentlich aus der Geschichte, wonach Ruth als sozusagen genetische Vorfahrin des Messias eine Konvertitin ist?
Wie sehen Sie das persönlich?
Es heißt für mich, dass diese ganzen Fragen zur Genetik nicht die eindeutigen Antworten liefern, die wir gerne möchten. Sie sind allerdings schon alleine als Frage interessant: Womit beschäftigen wir uns hier eigentlich, und was sagt das über uns, dass wir das wissen möchten? Weshalb wollen wir genetisch beweisen, dass wir als Juden eine gemeinsame Biologie haben?
Die orientalischen Völker haben sich im Gegensatz zu den westlichen, eventuell gar christlichen, nie so definiert. Ist die Idee der Genetik also eigentlich falsch gedacht?
Die Frage nach der jüdischen Genetik trägt trotzdem sehr viel zum ganzen Diskurs bei, der von jüdischer Seite eben anders geführt wird als etwa der Rassendiskurs in den USA. Dort hat es ja sehr viel mit «Colorism», sprich Hautfarbe, zu tun, bei Juden hingegen eher mit einer Art Familienzugehörigkeit. Juden lassen sich hier wie so oft nicht in die gleichen Schemata pressen, die andere Gruppierungen verwenden. Auch die Frage «Was ist Religion?» ist für Juden etwas ganz anderes als für Christen, die universalistisch sind und für die das mit Ethnien relativ wenig zu tun hat.
Ist die heutige Tendenz zur Identitätsbestimmung mit DNA-Tests, aufgrund welcher man am Schluss ja einfach alles sein kann, nicht auch gefährlich?
Ja, und es ist immer interessant, ein wachsames Auge darauf zu halten. Es gab einen Vorstoß in Israel, Einwanderer, die nicht eindeutig nachweisen konnten, dass sie jüdische Vorfahren haben, einen Gentest machen zu lassen. Man hätte sie dann anerkannt, wenn sie gemäß Test zu einer besonders verbreiteten Gruppe aschkenasischer Juden gehört hätten. Aber diese Anerkennung wäre immer noch beim Rabbinat gelegen, und daraus sieht man, dass Politik gewissermaßen in den Händen der Theologie und nicht der Biologie ist. Sogar wenn Biologie ins Spiel kommt, ist die Entscheidungshoheit bei den Rabbinern.
Aber kann man Judentum überhaupt genetisch nachweisen, und bis zu welchem Grad?
Die Genetik kann beispielsweise nachweisen, dass jemand das Kind einer Mutter ist, die eindeutig als jüdisch anerkannt ist. Das geht. Aber es gibt auch ein Papier eines Genetikers, das besagt, dass die aschkenasischen Juden im osteuropäischen Raum eine bestimmte genetische Signatur haben. Genetische Signatur heisst, dass man Mutationen in der DNA vergleicht und dabei sieht, in welchen Gruppen welche Mutation häufiger vorkommt als in anderen. Es konnte gezeigt werden, dass es bestimmte Marker gibt, die statistisch sehr, sehr viel häufiger bei osteuropäischen jüdischen Frauen vorkommen als bei nicht jüdischen. Genau betrachtet und wirklich beweist das gar nichts. Indessen gab es ein Responsum des Rabbinats, dass, wenn etwa eine Frau aus der ehemaligen Sowjetunion kommt, die nicht genügend Beweise für ihr Judentum hat, eine solche genetische Signatur als zusätzliches Beweisstück anerkannt würde. Das wurde aber nicht offiziell übernommen. Eine weitere Studie sagt, dass man die Juden gewissermaßen erkennen würde, wenn man eine Gruppe von Juden, bei denen alle vier Grosseltern und demgemäß Eltern jüdisch sind, mit einer Gruppe Nichtjuden vergleicht.
Es gibt ja aber auch gerade unter osteuropäischen Juden stark verbreitete Krankheiten. Offenbar gibt es also doch genetische Gemeinsamkeiten, aber vielleicht müsste man das breiter fassen?
Ja, das gibt es natürlich, aber eben nicht nur bei Juden, sondern in allen Bevölkerungsgruppen. Auch da muss man sehr, sehr vorsichtig sein, denn das sind alles statistische Werte, und wenn es einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Gruppen gibt, sagt das über die Individuen eben nur, dass sie für bestimmte Krankheiten ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben. Das Problem mit der Genetik ist, dass die Leute sich darunter etwas Eindeutiges vorstellen, und das ist eben überhaupt nicht der Fall. Das sind alles statistische Werte, die auf Vergleichen beruhen und in der Identitätsdebatte etwas beitragen sollen, das bisher nicht bewiesen werden konnte. Um das klar zu sagen: Ich beziehe mich hier auf die Identitätsdebatte. Für die biomedizinische Forschung sind diese Studien natürlich sehr wichtig, zumal auch Methodologien, technische Neuheiten, Algorithmen und so etwas kritisch verhandelt werden.
Wäre das auch eine Antwort auf den ganzen Rassendiskurs, sprich, dass es Rassen aus genetischer Sicht gar nicht geben kann?
Auch hierzu gibt es unterschiedliche Studien. Aber eines sagen alle: Es gibt nichts, rein gar nichts Genetisches, was eine bestimmte Bevölkerungsgruppe von Menschen besitzt und auszeichnet, das nicht in anderen auch vorkommt. Und wenn bei einem der erwähnten Gentests dann ein Resultat von beispielsweise 44 Prozent irisch, 13 Prozent afrikanisch usw. herauskommt, zeigt das doch, dass wir alle eine Mischung aus allem Möglichen sind.
Gibt es auf dieses Feld der Forschung in Israel einen politischen Druck, etwa in Richtung der genetischen Beweisführung für jüdische Menschen?
Ich habe noch nie einen Druck bemerkt. Eher sind die Israelis vorsichtig, was die biologische, genetische Bestimmung von Judentum betrifft. Man braucht es ja aber auch nicht wirklich, denn es gibt genug politische Gegner zur Tatsache, dass das Rabbinat so viel Macht in den Händen hält – auch wenn die Genetik den Rabbinern weniger Handlungsspielraum erlauben würde. Die Faszination für den genetischen Volksbegriff kommt vielleicht eher aus dem säkularen Bereich, aber da wiederum kommt eben auch sehr viel stärker die Sicht zum Tragen, dass das Judentum sich durch die gemeinsame hebräische Sprache, die gemeinsame Kultur und vor allem eine gemeinsame Leidensgeschichte auszeichnet. Insofern ist die Genetik dann auch nicht so nötig.
Sie haben Ruth, die Moabiterin, erwähnt. Wie interpretieren Sie diese Geschichte des Tanach? War sie zur Zeit der Niederschrift eine Wirklichkeit, die in der Schrift Einlaß fand?
Ich war einst total verblüfft, als eine Bekannte von mir sagte, dass Ruth nach heutigem Verständnis konvertiert gewesen sei. Natürlich hat sich der Blick auf dieses Thema geändert, und schon allein die Art der Ehe hat sich in der Zeit, die wir überblicken können, geändert. Es ist bestimmt nicht umsonst so, dass zum Beispiel eine jüdische Frau, die außerhalb Israels standesamtlich geheiratet hat, in Israel bei einer Scheidung trotzdem einen Get braucht. Allein daran sieht man, dass sich alles laufend neu formt, und man kann nicht von heute auf rückwärts projizieren und sagen, dass damals schon alles so war. Insofern kann man auch gar keine eindeutigen Ergebnisse bekommen.
Die Megilat Ruth ist zentral für Schawuot. Was bedeutet die Geschichte Ihnen?
Ich finde es besonders schön, dass Ruth Moabiterin ist. Die Moabiter waren ja gewissermassen von Gott verboten, und man sollte sicher keine Moabiterin heiraten. Aber es steht nirgends, dass Gott dagegen protestierte – es ist in unseren Händen, ebenso wie der Tanach. Und auch wie die Genetik, denn hier basiert wirklich viel auf Interpretation. Das ist, was ich so gerne mag an meiner Arbeit: immer hinterfragen, was wir da eigentlich gerade machen. Ruth bringt eine Geschichte, in der ausgerechnet eine Moabiterin die jüdische Geschichte bestimmt. Und aus ihrem Haus sollte später der Messias kommen. Die Definition, was der Messias ist, liegt indessen ja auch in unseren Händen und Interpretationen.
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©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. Juni 2022