Baron David Wolfson trat als einer der ersten konservativen Politiker aus Protest gegen Boris Johnson zurück – ein Gespräch über das englische Demokratieverständnis sowie über weltliche und religiöse Quellentexte
Yves Kugelmann
London (Weltexpresso) - tachles: Sie haben als einer der Ersten das Ende von Boris Johnson als Ministerpräsident vorhergesehen. Ist die derzeitige Debatte gelebte Demokratie oder zeigt sie vielmehr die Grenzen der Demokratie auf, wenn lügende Politiker so lange an der Macht bleiben können?
David Wolfson: Ich bin wegen der «Partygate»-Affäre im April zurückgetreten. Ich war der Meinung, dass es grundlegende rechtsstaatliche Probleme gab, die angegangen werden mussten. Die Ereignisse, die letzte Woche zum Rücktritt des Premierministers geführt haben, waren nicht das, was ich vorausgesehen habe oder was ich sehen wollte. Unsere Verfassung hat funktioniert, und ich bin froh, dass die entsprechenden Entscheidungen von Politikern im Parlament und nicht von Richtern in Gerichten getroffen wurden. Bei den nächsten Parlamentswahlen werden die Bürgerinnen und Bürger ihr Urteil fällen können.
Sie sind bereits am 13. April aus Ihrem Amt als parlamentarischer Unterstaatssekretär im Justizministerium zurückgetreten, aus Protest gegen Boris Johnson. Wie lange konnten Sie ihm gegenüber noch loyal sein?
Eigentlich bis dann immer. Ich war ja parlamentarischer Unterstaatssekretär im Justizministerium und bin zurückgetreten, weil ich der Meinung bin, dass das, was mit den Partys am Sitz des Premierministers in Downing Street geschehen ist, gegen das Gesetz war, von dem wir allen sagten, dass sie es einzuhalten haben – und das grundsätzlich die allermeisten unter persönlichen Opfern auch einhielten.Dieser Gesetzesverstoss und noch dazu die meines Erachtens ungehörigen, aber geltend gemachten Gründe dafür sind für mich ein echtes Problem im Hinblick auf die Durchsetzung von Recht. Wer führt, darf sich so etwas nicht erlauben.
Wie war die Reaktion auf Ihr Rücktrittsschreiben?
Der Premierminister ist ein sehr höflicher Mann und schrieb mir einen höflichen Brief zurück. Ich werde indessen Mitglied meiner Partei bleiben, die konservativen Anliegen unterstützen und weiterhin als Peer im House of Lords einsitzen.
Könnten Sie sich vorstellen, bei den nächsten Wahlen als erster jüdischer Premier zu kandidieren?
Heutzutage kann man keinen Premierminister haben, der im House of Lords sitzt. Dafür braucht es ein demokratisches Mandat, und man muss gewählt werden. Und zum «ersten jüdischen Premier» stellt sich die Frage, ob man Benjamin Disraeli mit einschließt. Er war zwar anglikanisch getauft, halachisch gesehen aber jüdisch. Dies kam, weil sein Vater sich sehr ärgerte, dass er für ein Amt im Rat der alten spanisch-portugiesischen Londoner Synagoge angefragt wurde, dafür aber eine beträchtliche Summe Geld hätte bezahlen müssen. Aus diesem Ärger und einem Streit ließ er seine Kinder taufen, was Benjamin Disraeli später zugute kam, denn zu jener Zeit hätte er als Jude nicht Parlamentsmitglied werden können.
Sie sind Rechtsanwalt und plädieren im Umgang mit biblischen Texten aller Religionen für eine zeitgemässe Neuintrepretation. Was schlagen Sie vor, wenn es in der freien Welt um religiöse Fragen geht?
Religion ist ein wesentlicher Teil unserer Welt. Wenn Konflikte ein religiöses Element haben, kann man sie nur durch Einbeziehung der Religion lösen. Judentum und Christentum haben das – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – so gelöst, dass sie politische und religiöse Macht trennen. Die Christen haben das im 16. und 17. Jahrhundert durch das erneute Studium der Texte vollzogen. Im Islam muss es noch geschehen, und die Herausforderung für muslimische Wissenschaftler heute ist, dass auch sie ihre Texte neu lesen. Was im Christen- und Judentum möglich war, können auch sie. Im Gegensatz zu diesen beiden Religionen, zwischen denen ein Dialog über religiöse Texte stattfand, gab es diesen mit dem Islam bislang außer während des spanischen goldenen Zeitalters nicht. Wir müssen deshalb eine neue Basis für den jüdisch-muslimischen Dialog andenken.
Sie haben als Life Peer Einsitz im House of Lords. Gibt es einen Widerspruch zwischen der modernen Welt und der Art, wie im Parlament mit Religion umgegangen wird?
Es gibt in beiden Parlamentskammern vor jeder Sitzung ein Gebet für alle. Ich nehme manchmal daran teil und habe immer geglaubt, dass man als Angehöriger einer Minderheit wie der jüdischen in einer Gesellschaft, die Religion respektiert, besser aufgehoben ist als in einer rein säkularen. So war etwa das Cambridge College das ich besuchte, bis in die 1950er-Jahre nur für Mitglieder der anglikanischen Kirche zugänglich. Aber als ich dort war, hätte ich als Jude nicht mehr Unterstützung erhalten können – koscheres Essen, Rücksicht bei Prüfungen am Schabbat usw. Wer selbst eine religiöse Tradition hat, geht mehr auf andere mit einer anderen ein als jemand, der das gar nicht kennt.
Wie betrachten Sie dann aber das heutige Israel, im Wissen um die hohe Zahl Ultraorthodoxer, die das religiöse über das weltliche Gesetze stellen?
Ich glaube nicht, dass das so zutrifft. In Israel verhält sich nur eine kleine Minderheit so, die denkt, dass der Staat gar nicht existieren dürfte. Die Mehrheit der Ultraorthodoxen unterstützt den Staat; sie arbeiten, zahlen Steuern usw. Man bedenke, dass das System der jüdischen religiösen Gesetze 2000 Jahre lang davon ausging, dass die Juden in einer Gesellschaft leben, die von jemand anderem geführt wird. Wie führt man also einen Staat unter Einbezug der Halacha, wie können am Schabbat eine Armee, Spitäler, Elektrizitätswerke funktionieren? Wie geht man mit dem Schmittajahr um? Die Herausforderung unserer Tage liegt darin, eine Halacha zu schaffen, die berücksichtigt, dass wir nun eine jüdische Souveränität haben.
Israel und Grossbritannien haben beide keine niedergeschriebene Verfassung und keine Trennung zwischen Gesetz und Kirche. Wie beurteilen Sie das?
Es gibt Unterschiede zwischen England und Israel. Hier haben wir, als Beispiel, zivile Eheschliessung und Scheidung. Nur ist Israel sehr viel jünger, seine Politik ist immer noch in der Entwicklung begriffen. Es ist zu einfach, zu sagen, Israel macht dies und jenes falsch – auch Großbritannien und sogar die Schweiz kennen wohl Dinge, die nicht perfekt sind. Israel ist letztlich eine bemerkenswerte Schöpfung, ein pluralistischer, demokratischer Staat, in dem auch Minderheitenrechte geschützt werden und es einen Obersten Gerichtshof gibt. Wir setzen das ja alles voraus, aber schauen Sie mal auf die Nachbarstaaten!
Aber wie lässt sich aus Ihrer Sicht damit umgehen, dass Israel als Besatzer ein anderes Volk kontrolliert?
Ich würde nicht wagen, aus der Sicherheit Londons den Israeli zu sagen, wie sie das zu lösen haben. Persönlich würde ich es unter einem Satz angehen, den wir alle kennen, nämlich dass man den Fremden lieben soll. Er wird in der Bibel 36-mal erwähnt. Das allein löst das Problem nicht, aber es führt zur Einsicht, dass wir gegenüber Fremden Empathie hegen sollen, auch wenn wir nicht mit ihnen einig gehen. Denn wir selbst wissen doch, wie es sich anfühlt, fremd zu sein.
Gibt es für Sie diesbezüglich keine persönlichen Konflikte in Hinblick auf die Menschenrechte?
Es gibt tatsächlich nur sehr wenige absolute Menschenrechte, etwa jenes, das Folter verbietet. Das Recht auf Leben andererseits ist kein absolutes; Krieg, der Leben kostet, ist nicht verboten. Bei Gerichtsfällen um Menschenrechte geht es üblicherweise nicht um das Vorhandensein eines Rechts, sondern um miteinander konkurrierende Rechte, darum, Ausgewogenheit zu wahren. Als Beispiel: Ist das Recht auf freie Rede gewichtiger als jenes auf Persönlichkeitsschutz? Die Tragödie des Nahostkonflikts ist doch, dass es Rechte auf beiden Seiten gibt. Und genau deshalb ist es wesentlich, anzuerkennen, dass auch der andere eine Geschichte hat. Eine mögliche Lösung in diesem Konflikt kann nur eine organisch gewachsene sein.
Sollen wir als außenstehende Juden Israel unterstützen und verteidigen?
Wir verteidigen Israel ja nur mit Worten, wir stehen nicht an der Front – außer jenen, die aus der Diaspora einwandern und zur Armee gehen. Die Diaspora mag mit beteiligt sein, aber die Juden in Israel sind voll beteiligt.
Glauben Sie selbst noch an eine Zweistaatenlösung?
Derzeit sehe ich keine Alternative dazu. Die einzigen möglichen Alternativen – was ich überhaupt nicht gutheißen würde – ist eine potenzielle Ausweisung bestimmter Nationalitäten oder dann ein einziger Staat. Aber ich sehe nicht, wie man einen jüdischen demokratischen Staat mit seinen Traditionen ohne Zweistaatenlösung aufrechterhalten könnte. Der Rhythmus des Lebens in Israel folgt nun mal eben dem jüdischen Kalender. Die Tragödie des Landes ist in meinen Augen, dass ein religiöses Dasein politische Übertöne übernommen hat und Leute, die zwar kein weißes Hemd und keine schwarze Hose tragen, aber religiöse Traditionen pflegen, sich für nicht religiös halten. Wenn ich als Außenseiter etwas für Israel tun könnte, würde ich infrage stellen, ob die religiösen Parteien irgendetwas dazu beigetragen haben, irgendjemanden religiöser zu machen. Denn ich frage mich, ob nicht mehr Leute religiös wären, wenn es diese Parteien nicht gäbe. Vermutlich wäre dem so.
Müssen Sie, um als Peer im House of Lords einzusitzen, Mitglied einer Partei sein?
Nein, aber ich bin Mitglied der Tories, der konservativen Partei. Es gibt im House of Lords auch Mitglieder, die parteineutral sind.
Sie sind als Lord Teil der neuen englischen Aristokratie. Was bedeutet dies?
Ich werde als Cambridge-Absolvent, Rechtsanwalt und Peer im Oberhaus oft als Teil des «Establishments» betrachtet, aber ich sehe mich selbst sowohl innerhalb wie außerhalb dieser Schicht stehen. Wenn man zum Lord, zum Peer ernannt wird, muss man eine geografische Region als Teil des Titels wählen. Ich habe mich für Tredegar in Wales entschieden, weil meine Urgroßeltern in den 1880er-Jahren dorthin einwanderten und ich daran erinnern wollte, dass wir dort als Familie ein Refugium und einen Ort gefunden haben, wo wir leben konnten. Ich wollte mir selbst und auch anderen mit dieser Wahl bewusst machen, dass wir Immigranten waren, Fremde.
Die Labour-Partei hatte unter dem letzten Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn in den letzten Jahren ein Problem mit Antisemitismus. Was war aus Ihrer Sicht das Problem, und gibt es in England generell Antisemitismus?
Nein, ich glaube nicht, dass es grundsätzlich mehr davon gibt als in der Vergangenheit, und praktisch jede Gesellschaft hat ja eine Antisemitismus- und Rassismusgeschichte. In Großbritannien gibt es üblicherweise zwei Formen: die traditionelle und aristokratische, für die Juden nicht englisch genug sind, und die modernere der Links- und der Rechtsextremen. Corbyn hat als Erster überhaupt eine breite Palette an Neumitgliedern in die Labour-Partei gezogen, worunter allerhand Antisemiten waren. Er hat den Dschinn aus der Flasche befreit, und es ist nicht leicht, ihn wieder reinzukriegen. Dadurch wurde der antisemitische Diskurs in England akzeptabler; die Leute wagten es, Dinge zu sagen, die sie zehn Jahre zuvor nicht gesagt hätten.
Foto:
Baron David Wolfson setzt sich im britischen Parlament für die jüdische Tradition ein
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Juli 2022