tagesschaudeukraineWomit Wladimir Putin anscheinend nicht gerechnet hat

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) -  Es ist schon eine Weile her, seit die „Süddeutsche Zeitung“ gestand, dass nicht leicht Ukrainer zu finden seien, die offen über ihre Anhänglichkeit zu Russland sprechen. „Schließlich kann das Konsequenzen haben.“  Manche Nachbarn wollten nicht mehr mit ihr sprechen, schrieb die Osteuropa-Korrespondentin, Sonja Zekri. Eine Frau habe  erzählt, dass sie am Baikalsee aufgewachsen sei und 21 Jahre lang in Russland gelebt habe. Ja, Russland sei der Aggressor, keine Frage. „Aber ich kann Russland nicht hassen.“ Von einer anderen habe sie zu hören bekommen: „Wir haben doch gelebt wie Brüder.“ (SZ 24. 6.2022).

Zum besseren Verständnis: Jeder sechste Ukrainer hat bei der letzten offiziellen Volkszählung seine Nationalität mit russisch angegeben. Die meisten der insgesamt siebeneinhalb Millionen Russen leben in den Städten, während die gebürtigen Ukrainer zu 87 Prozent auf dem Land leben. Seit Jahrhunderten ist die Ukraine ein Teil Russlands, konstatierte der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger vor acht Jahren in der „Washington Post“ vom  5. März 2014.  Damals war sie erst seit 23 Jahren unabhängig. Ihre Führer hätten die Kunst des Kompromisses nicht gelernt, und erst recht nicht die der historischen Perspektive, schrieb Kissinger damals..

Die Wurzel des Problems läge in den Bemühungen der ukrainischen Politiker, „widerspenstigen Teilen des Landes ihren Willen aufzuzwingen. Erst von der einen, dann von der anderen Seite“.  Die US-Politik  sollte einen Weg suchen, wie die beiden Teile des Landes miteinander versöhnt werden können. Russland sei nicht  in der Lage, eine militärische Lösung durchzusetzen, ohne sich in einer Zeit zu isolieren, in der viele seiner Grenzen  bereits prekär seien.

Das war ein hellseherischer Satz, dessen Tragweite erst im  Lichte des aktuellen Geschehens erkennbar  wird. Der französische Philosoph Étienne Balibar diagnostizierte einen „bemerkenswerten Umstand“: Entgegen den Erwartungen der russischen Invasoren hätten sich die beiden Sprachgemeinschaften in der Ukraine „im patriotischen Widerstand zusammengeschlossen und identifizierten sich mit der Idee eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaates“  („ Blätter für deutsche und internationale Politik“, 8/2022). Das mag einer der Gründe dafür sein, dass der russische Vormarsch bereits nach wenigen Tagen in Stocken geraten ist und einem mühseligen Stellungskrieg gepaart mit  terroristischen  Luftschlägen Platz gemacht hat.

Eine entscheidende Rolle bei der weiteren Entwicklung spielt nach Balibars Ansicht die Zweisprachigkeit in der Mehrheit der Bevölkerung, die sich größtenteils dem sowjetischen Schulsystem verdanke. Die Ukraine bewege sich von einer „ethnischen Nation“ hin zu einer „staatsbürgerlichen Nation“, der demos gewinne die Überhand über den ethnos. Den Anstoß habe die Maidan-Revolution gegeben, bei der es sich  „unverkennbar um  einen populären demokratischen Aufstand“ gehandelt habe, den „die russische Diktatur unter Wladimir Putin nicht länger tolerieren“  konnte, zumal da der Maidan  ein Modell für die Bürger der Russischen Föderation bieten könnte.

Natürlich drängten andere Kräfte in eine entgegen gesetzte Richtung. Die mächtigste Kraft unter ihnen sei der Krieg selbst, insbesondere weil er eine Russophobie entfesseln werde, die nicht nur auf Russland als Staat, sondern auch auf die russische Kultur und Sprache ziele.

Ein Volk, das unter einer „kriminellen Invasion und massenhaften Zerstörungen“ leide, müsse bedingungslos unterstützt werden, hebt Étienne Balibar abschließend hervor.. „Auf der anderen Seite dürfen wir die Idee nicht aufgeben, dass das Putin-Regime nicht mir dem russischen Volk identisch ist. Deshalb müssen wir die Russophobie bekämpfen und maximale Solidarität mit russischen Dissidenten zeigen. Wir müssen die Kampagne gegen Atomwaffen fortsetzen und jede Gelegenheit nutzen, die Vorstellungen einer anderen Weltordnung zu vertreten – basierend auf der Unabhängigkeit der Völker und kollektiver Sicherheit statt auf Rüstung, Vorherrschaft und Sanktionen.“

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