Eine zerstorte Schule in Donetsaka OblaskaDie Propaganda im Ukrainekrieg erfordert investigative Recherchen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Conrad Talers Artikel „Ukraine missachtet Völkerrecht ...sagt Amnesty International“ (Weltexpresso vom 26.09.2022) hinterlässt bei mir den Eindruck, nicht ausreichend recherchiert zu sein, weil gewichtige Stimmen von Völkerrechtlern nicht berücksichtigt wurden.

Ich will meine Einschätzung an zwei Stellungnahmen deutlich machen:

Die erste erschien am 10.08.22 im Online-Dienst von Ralf Fücks‘‘ „Zentrum liberale Moderne“ (https://ukraineverstehen.de/amnesty-international-liegt-daneben/). Ich zitiere Lead und Beginn:

„Anfang August warf Amnesty International der ukrainischen Armee vor, mit ihrer Kriegstaktik Zivilisten zu gefährden. Menschenrechtsanwalt Wayne Jordash und Menschenrechtsberaterin Anna Mykytenko zeigen, warum die Organisation falsch liegt und welche analytischen Fehler sie gemacht hat.

Anfang August hat Amnesty International (AI) der ukrainischen Armee vorgeworfen, durch ihre Kriegstaktik die Zivilbevölkerung zu gefährden. Über diesen Bericht wird seitdem heftig diskutiert. Aber schon jetzt ist klar: Wenn AI richtig recherchiert hätte, wäre die Organisation vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass die ukrainischen Streitkräfte alle möglichen Maßnahmen ergriffen haben, um die eigene Bevölkerung vor den Auswirkungen der Feindseligkeiten mit Russland zu schützen und gleichzeitig die Menschen und das Territorium gegen die Verbrechen der Angreifer zu verteidigen. So schreiben es zwei führende Experten für humanitäres Völkerrecht (HVR). Es zielt speziell auf den Schutz von Zivilisten und Personen ab, die ihre Waffen niedergelegt haben.

Zu diesem Zweck verpflichtet das HVR alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien zur Einhaltung seiner Grundprinzipien – einschließlich der Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen und der Ergreifung von Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen bewaffneter Angriffe. Dieses bringt in bestimmten Situationen Einschränkungen für Kämpfe in der Nähe von bewohnten Gebieten mit sich.

Wie die ukrainische Regierung zu akzeptieren scheint, muss sich jedes Militär – ob es nun für seine Souveränität oder den Schutz seines Volkes kämpft oder nicht – an das humanitäre Völkerrecht halten und dies auch nach außen hinzeigen. Keine Kriegspartei, wie rechtschaffen ihre Sache auch sein mag, kann sich diesen Forderungen entziehen. Auf der Seite der Engel zu stehen, ist keine Verteidigung.“

Die zweite Stellungnahme entstammt der juristischen Fachzeitschrift „Legal Tribune Online“. Am 11.08.22 veröffentlichte darin Simon Gauseweg einen Beitrag, dessen Schlussfolgerungen ich nachstehend zitiere.

Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

„Denn im Krieg ist erlaubt, was in den Grenzen, die die Menschlichkeit setzt, »militärisch notwendig« ist. Eine Schule, die nicht mehr als Bildungsstätte, sondern als militärische Unterkunft oder als ein Kommandoposten genutzt wird, darf bekämpft werden. Ähnlich zulässig ist es, wenn ein Krankenhaus in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn z.B. ein in unmittelbarer Nähe eingerichtetes Munitionsdepot bekämpft wird. Gerade hieraus erklären sich die Schutzpflichten aus Art. 58 ZP I (Humanitäres Völkerrecht, Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte). Diese Vorschriften stehen jedoch unter dem Vorbehalt des »praktisch Möglichen« (engl. »to the maximum extent feasible«). Stützpunkte innerhalb bewohnter Gebiete stehen also nicht automatisch im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht. Entscheidend ist das damit verfolgte Ziel und ob dieses die Gefahr für die Umgebung rechtfertigt.

Zu Recht wurde der Bericht von Amnesty daher damit kritisiert, dass die Ukraine dort verteidigte, wo sie angegriffen wurde. Die Erfahrungen der vergangenen Monate legen nahe, dass eine Stadt unter russischer Besatzung für die ukrainische Zivilbevölkerung deutlich unsicherer ist als eine, die von ukrainischen Kräften gehalten wird – trotz russischen Beschusses.

Daran ändern auch einige Kilometer Entfernung zur Front nichts. Jedenfalls zu Beginn der Invasion hat Russland versucht, den Krieg gegen die Ukraine aus der Bewegung heraus zu führen. Alles im Umkreis von einer Tankfüllung um eine russische Bataillonskampfgruppe herum ist damit prinzipiell von einem plötzlichen Vorstoß bedroht. Auch Militärpräsenz in größerer Entfernung zur Front ließe sich also als »notwendig« rechtfertigen, wenn den ukrainischen Streitkräften z.B. die Möglichkeiten zu schnellerer Reaktion fehlen. Die Aufgabe einer Stellung, die nicht schnell genug wieder bezogen werden kann, um sie gegen einen Angriff wirksam zu verteidigen, ist nicht »praktisch möglich«.

Zwar schreibt Amnesty, dass jeweils »tragfähige Alternativen verfügbar gewesen [seien], die keine Gefahr für die Zivilbevölkerung bedeutet hätten«. Doch diese Beurteilung obliegt in einem großen Maß den Kommandeuren vor Ort, die mehr Faktoren in ihre Entscheidung einfließen lassen müssen als bloße Entfernungen: etwa Unterbringungs-, Lager- und Transportmöglichkeiten, An- und Abmarschwege oder die von der (baulichen) Umgebung gebotene Deckung.

Nach Amnestys Bericht ist nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine gegen die Regeln des humanitären Völkerrecht verstoßen hat. Denn es trifft zu, dass Militärpräsenz die Gefahr für die Umgebung steigert. Deswegen soll sie nach Möglichkeit vermieden werden. Dass diese Möglichkeit jeweils bestand, hat Amnesty behauptet, aber noch nicht belegt.

Gleichzeitig wirft es ein zweifelhaftes Licht auf die mit dem Bericht eigentlich bezweckte Unparteilichkeit, wenn Amnesty Worte wählt, die der Ukraine eine Verantwortung für das russische Vorgehen zuschreibt. Die ukrainische Zivilbevölkerung ist unabhängig von der ukrainischen Kampftaktik in großer Gefahr. Und die russischen Streitkräfte scheinen nicht gesondert »provoziert« werden zu müssen, um gegen sie vorzugehen.“

https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ukraine-krieg-amnesty-bericht-vorwurf-gefaehrdung-zivilbevoelkerung-humanitaeres-voelkerrecht/

Foto:
Zerstörte Schule in Donetsáka Obláska
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