Darf der Regierungschef ein kurzes Gedächtnis haben?
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) – „Was sind Sie für eine Regierung, die auf die eigenen Bürgerinnen und Bürger schießt?“ schleuderte Bundeskanzler Olaf Scholz der iranischen Führung dieser Tage angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen im Lande entgegen. „Wer so handelt, muss mit unserem Widerstand rechnen“.
Muss man so alt sein wie ich, um bei dieser Kritik einen schalen Geschmack im Mund zu bekommen, angesichts der Unwissenheit des sozialdemokratischen Politikers im Hinblick auf jüngste deutsche Geschichte, oder sollte man annehmen dürfen, dass die Kinder bereits in der Schule erfahren, was in Deutschland wenige Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft schon wieder möglich war, ohne dass das demokratische Ansehen unseres Landes zu Schaden kam?
Die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland war das erste europäische Land, in dem die Polizei mit scharfer Munition auf Demonstranten schoss, die gegen die von den bürgerlichen Parteien unter Leitung des CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer betriebene deutsche Widerbewaffnung protestierten. So geschehen am 11- Mai 1952 in der Ruhrmetropole Essen. Es gab einen Toten und mehr als zehn Verletzte.
Kein Schrei des Entsetzens wurde laut. Bei dem von einer Polizeikugel durch einen Schuss in den Rücken tödlich getroffenen Demonstranten handelte es sich um einen 21jährigen Kommunisten namens Philipp Müller. Als das Opfer vor den Kruppschen Krankenanstalten in Essen aus einem Polizeifahrzeug geladen wurde, hörte ein Zeuge einen Beamten zu seinen Kollegen sagen: „Das Schwein ist schon tot.“
Eine einzige überregionale Zeitung hatte den Mut, dem Ereignis ein paar kommentierende Worte zu widmen. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und die Wochenzeitung „Die Zeit“ nahmen von dem Drama nicht einmal nachrichtlich Kenntnis. Es existierte für sie einfach nicht. Die kommunistische Minderheit mit ihrem Widerstand gegen Aufstellung deutscher Streitkräfte war schon wieder so weit ausgegrenzt, dass Adenauer seinen Willen ungehindert durchsetzen konnte.
Der Versuch der sozialdemokratischen Opposition, das Vorgehen der Polizei in Landtag kritisch zu hinterfragen, verlief im Sande. Nachdem die ursprüngliche Behauptung, kommunistische Demonstranten hätte hätten als erste das Feuer eröffnet, in sich zusammengebrochen war, verloren die Zeitungen vor Ort schnell das Interesse. Die Bundestagsmehrheit lehnte es ab, sich mit den Essener Vorgängen zu beschäftigen.
Vor Gericht räumten Polizisten als Zeugen ein, dass die Beamten als Antwort auf Steinwürfe der Demonstranten das Feuer mit scharfer Munition eröffneten. Niemand rief den politisch Verantwortlichen damals zu: „Was sind Sie für eine Regierung, die auf die eigenen Bürger schießt“. Und im kurzen Gedächtnis der Akteure von heute ist kein Platz für die 11. Mai 1952.
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Philipp Müller
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Info:
Näheres in Conrad Taler, Gegen den Wind, Anatomie eines Lügenkomplotts, PapyRossa Verlag 2017.