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Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zeigt die Wahrscheinlichkeiten von ausgebliebener Geschichte . Ein Gespräch mit dem Vordenker und Historiker Dan Diner

Yves Kugelmann

Berlin (Weltexpresso) - tachles: Die neue Ausstellung im Deutschen Historischen Museum «Roads Not Taken» basiert auf einem Konzept von Ihnen. Sie zeigen anhand von Deutschlands Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie viel Zufall in Weltgeschichte steckt.


Dan Diner: Das kann man so sehen, denn bevor diese Wege beschritten wurden, bedeuteten sie ja eine Möglichkeit unter anderen. Insofern hat ihr Beschreiten den Charakter einer Wahrscheinlichkeit, und es ergeben sich unterschiedlich dichte Wahrscheinlichkeiten, die miteinander konkurrieren, bis eine sich schliesslich als Wirklichkeit durchsetzt. In der Ausstellung werden Situationen und Lagen neben der eingetretenen Wirklichkeit präsentiert. Es sind dramatische Situationen, die nicht als historische Normalität gelten können, sondern zu einer regelrechten Zäsur wurden.

Ist denn alles praktisch unbeeinflussbar, und alle, die versuchen, die Wege bewusst zu wählen, können gar nicht so viel ausrichten?
Das würde ich so nicht verallgemeinern. Es geht darum, dass die Zeitgenossen in bestimmten Situationen eine andere Möglichkeit als wahrscheinlicher angesehen haben als die dann tatsächlich eingetretene. Von einer unausweichlichen Notwendigkeit kann da nicht die Rede sein.

Hätte 1933 die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler vermieden werden können, und wenn ja, weshalb?
Die historische Forschung geht zu weiten Teilen davon aus, dass das, was am 30. Januar jenes Jahres passiert ist, in der Zeit nicht unbedingt hätte passieren müssen und auch die Zeitgenossen eine solche Wahrnehmung hatten und insofern überrascht waren, dass es dazu gekommen ist. Die Nationalsozialisten befanden sich damals bereits im Abschwung, hatten bei den Novemberwahlen 1932 gut zwei Millionen Stimmen verloren, die Parteikasse war leer, die Wirtschaftskrise mit der gewaltigen Zahl an Arbeitslosen fand langsam aus der Talsohle heraus, so dass sich ein Aufschwung ankündigte. Alles wies darauf hin, dass das, was letztlich eingetreten ist, nicht hätte eintreten müssen.

Hätte also auch die Massenvernichtung der Juden nicht geschehen müssen?
Als Hitler an die Macht kam, war der Zug in der Tat politisch abgefahren und der Führerstaat wurde etabliert. Aber sich damals vorzustellen, was noch an Katastrophen geschehen würde, blieb allen verborgen. Das, was später als Holocaust benannt werden sollte, war unvorstellbar.

Ab wann ist die Sache nicht mehr beeinflussbar, wenn der Weg – sei es bewusst oder eben zufällig – einmal eingeschlagen ist?
Schwer zu sagen. Bis zum Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 war das, was dann im Zuge dessen eintreten sollte, also die systematische Vernichtung der europäischen Juden, nicht vorstellbar. Die Lage der deutschen Juden war noch eine andere gewesen. Anhand der Auswanderungsziffern zeigt sich, dass Panik unter ihnen erst mit dem November 1938, der Reichspogromnacht, ausbrach. Zuvor, mit dem Jahre 1933 lässt sich folgende Tendenz erkennen: Früh wanderten oder flohen Juden aus Deutschland eher aus politischen denn aus «jüdischen» Gründen.

Müsste man also zu jedem Zeitpunkt alternative Möglichkeiten immer mitdenken?
Was das europäische Judentum als Ganzes angeht, verschlossen sich alle Alternativen. Ab Oktober 1941 galt ein von den Nazis verhängtes Auswanderungsverbot. Europa war zu einer tödlichen Falle für alle Juden geworden.

Die Ausstellung denkt in alle Richtungen und verläuft auf der Zeitachse rückwärts. Was kann man daraus lernen?
Dass Geschichte etwas Offenes ist und sich die Menschen, vor allem die verantwortlichen, darüber im Klaren sein müssen, dass der Weg, der eingeschlagen wird, etwas mit Verantwortung und Entscheidung zu tun hat. In den sechziger Jahren bis in die achtziger Jahre, als die Gesellschaftsgeschichte en vogue war, wurde Geschichte vornehmlich so geschrieben, als hätten die handelnden Menschen auf ihren Verlauf keinen Einfluss, also so, als würden festgefügte Strukturen handeln. Eine politische Geschichte hingegen legt grossen Wert auf die von Menschen getroffenen Entscheidungen und damit auf Fragen von Ethik und Moral.

Gibt es auf dem eingeschlagenen Weg denn auch mal einen Notausgang?
Es gibt in Situationen von unterschiedlicher Dichte von Möglichkeit, aber auch Tendenzen, die in ihrer Wucht derart weit fortgeschritten sind, eine derart schiefe Ebene, dass die eingetretene Dynamik nicht mehr aufzuhalten ist. Die Ausstellung findet ja im Deutschen Historischen Museum statt, und sie will dem deutschen Publikum mitteilen, dass das, was wir im Rückblick als Geschichte bezeichnen, von ihrem Handeln und ihren Entscheidungen abhing, also mit den ethischen Massgaben von Verantwortung in Verbindung steht.

Ist diese Botschaft der Blick eines jüdischen Historikers?
Sicher ist darin auch etwas Jüdisches dran, jedenfalls was die Perspektive angeht. So lässt sich die Zentralität des Holocaust dem deutschen Bewusstsein nicht entziehen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. So wird der Holocaust mit der Ereignisikone des 20. Juli 1944 konfrontiert, also dem Attentat auf Hitler, einem wichtige moralischen Datum deutscher Geschichte, als deutlich gemacht wird, dass der Holocaust zum damaligen Zeitpunkt im Wesentlichen bereits vollzogen war, während von da an bis Kriegsende im Mai 1945 für Deutschland eine massive Steigerung der Opferzahlen bei den Wehrmachtsangehörigen wie bei der Zivilbevölkerung zu verzeichnen war – also für die jüdischen Opfer ein Ende des Krieges im Sommer 1944 kaum noch etwas bedeutet hätte, also für den Holocaust eigentlich zu spät gekommen wäre.

Das deutsche Bewusstsein für Geschichte ist ein Thema, das sich in den Diskussionen um den 9. November widerspiegelt – welcher gilt denn nun, jener von 1989, jener der 1920er Jahre, jener der 1930er Jahre?
Alle 9. November bis auf jenen von 1989 stehen in irgendeinem sinnfälligen Zusammenhang zueinander. 1918 die Ausrufung der Republik, 1923 die Gegenreaktion, der Hitlerputsch in München, 1938, als die Nazis der «Blutopfer» des 9. November 1923 gedachten und dabei das Pogrom, die «Kristallnacht», beschlossen. Der 9. November 1989 fiel rein zufällig auf dieses ikonische Datum, und das führt selbstredend zu einem Gedenkproblem. Gilt es den Tag des Falls der Mauer als einen Freudentag zu begehen? Oder bleibt man dem 9. November 1938 verpflichtet, der kein abstraktes Datum ist, sondern an jedem Ort, in jeder Stadt, in fast jeder Strasse Spuren der Erinnerung hinterlassen hat? Bis in die 1980er Jahre wurde das Gedenken an den 9. November 1938 als ein Art Ersatzdatum für die Erinnerung an die Vernichtung der Juden gehandhabt, ein Ereignis, dass ja erst später eingetreten ist. Aber diese sich eingeschliffene Gedenkpraxis, was den 9. November 1938 betrifft, lässt sich nicht einfach schleifen, ohne wiederum die Erinnerung an den Holocaust zu beschädigen.

Wenn der 9. November 1989 in der Ausstellung gewürdigt wird, was trägt dieses Datum zum Verständnis der Geschichte bei?
Der 9. November 1989 spiegelt das Paradigma der gesamten Ausstellung wider, nämlich die Frage nach der Kontingenz, nach dem Zufall, dem Unerwarteten, der Wende in der Geschichte. Kontingenz will zum Ausdruck bringen, dass etwas eingetreten ist, was auch ganz anders hätte kommen können – und dieses «es hätte auch anders kommen können», der Untertitel der Ausstellung – ist der Rede entnommen, die Angela Merkel noch als Kanzlerin am 3. Oktober 2021 gehalten hat. Nun ist aber der 3. Oktober zum Nationalfeiertag der deutschen Einheit erkoren worden und offenbart sich so als ein Deckdatum für den 9. November 1989, also jenen Tag, der eigentlich als Tag der Freude gelten würde, aufgrund seiner vorausgegangenen negativen ikonischen Bedeutung aber nicht als solcher gelten darf.

Zur Gegenwart: Ist Russlands Angriff auf die Ukraine und auf die Demokratiebewegung in Russland auch einer gegen das, was 1989 in Deutschland geschehen ist?
Ja, gar keine Frage. Aber es gibt noch andere Aspekte, die einen fürchten lassen. Etwa, dass Wladimir Putin mittlerweile zu oft den Zweiten Weltkrieg zitiert und Deutschland immer stärker erwähnt. Deutschland könnte bei einer Ausweitung des Krieges durchaus ins russische Fadenkreuz geraten.

Das war doch schon während des Kalten Krieges so. Also eine normale Situation für Deutschland.
So normal nun wieder auch nicht. Aber es sind kaum europäische Konflikte denkbar, die Deutschland unberührt lassen würden. Schliesslich liegt Deutschland in der Mitte des Kontinents und ist so eines jeden anderen Landes Nachbar.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor einem Jahr die Zeitenwende-Rede gehalten. In anderen Ländern gab es das nicht. Eine deutsche Zeitenwende?
Nicht nur eine deutsche Zeitenwende, aber vor allem eine deutsche. Unter dem amerikanischen Atomschirm gesichert, glaubte Deutschland, alles ignorieren zu können, was mit Gefahren und Gefährdungen in Verbindung steht. «Zeitenwende» bedeutet, dass die Möglichkeit existenzieller Verwerfungen nunmehr akzeptiert wird und Deutschland sich darauf einrichtet. Die Zeit des Kalten Krieges war für alle eine Sonderzeit gewesen, vor allem für Deutschland.

Sind für Sie als Historiker die Entscheidungen, die Amerika und Europa in Bezug auf Russland getroffen haben, richtig?
Als Historiker eher nicht. Wir befinden uns mitten im Zeitstrom. Da sollte man sich überaus zurückhalten. Als politisch interessierter und historisch informierter Mensch würde ich meinen, dass sich Russland in einem Definitionskrieg befindet. Russland befindet sich in einem Definitionsspagat: Ist es ein Nationalstaat, ein Imperium, eine Idee, wodurch wird es zusammengehalten, hat es Grenzen? Die Sowjetunion ist damals implodiert, bei Russland besteht die Gefahr, dass es explodiert. Das heisst, dass es durchaus sein könnte, dass wir vor einer Entwicklung stehen, die uns an die Ausmasse des Dreissigjährigen Krieges erinnern, dass das sich seiner selbst ungewisse Russland immer weiter umliegende Staaten in jenen Prozess von Zerfall hineinzieht, in dem es sich befindet. Russland ist ein gewaltiges Kontinentalimperium, das zusehends seine Kohäsionskraft verliert, mit einem schwachen, von Personen und nicht von Institutionen gekennzeichneten Regime.

Hat sich auch institutionell seit dem Zweiten Weltkrieg denn nicht viel geändert? Oder würden heute etwa China oder Indien zu verhindern wissen, dass Russland explodiert?
Wer kann das noch beherrschen? Alles, was wir sehen, deutet doch darauf hin, dass die eingetretene Tendenz eben nicht beherrschbar ist. Für Putin ist es auch eine Frage seines physischen Überlebens, und ein autokratisches Regime hängt nun mal von einer Person und ihrem sehr unmittelbaren Umfeld ab. Da ist der Spielraum des Handelns sehr eng gezogen.

Was bedeutet es für die Kriegsführung Russlands?
Konventionell ist Russland schwach – und das im Unterschied zur Sowjetunion. Da besteht natürlich ein strategischer Anreiz, zu Massenvernichtungswaffen zu greifen, was wir uns besser nicht vorstellen.

Also ist alles seit 1989 Erreichte nur für Schönwetterzeiten gedacht, hat sich bei Schlechtwetter aber nur wenig geändert?
Kann man so sagen. Durch die Globalisierung mit all ihren Auswirkungen ist die Welt so zusammengewachsen, dass es kaum vorstellbar war, dass militärische Gewalt als regelrechter Staatenkrieg grösseren Ausmsses wieder einkehrt und tendenziell unsere Existenz bedroht. Vor allem, nachdem der Kommunismus, die Sowjetunion in sich zusammengebrochen waren, und dies doch auf relativ unblutiger Weise. Man hat den Eindruck, heute werde nachgeholt wird, was damals nicht eingetreten ist.

Und Deutschland steht innerhalb Europas wiederum im Zentrum des Ganzen. Warum?
Mein Eindruck ist, dass das, was Russland angeht und für Europa Folgen nach sich ziehen wird, sich wie eine Umkehrung des Sogs in die Postmoderne ausnimmt, indem es uns in die Muster des 19. Jahrhunderts zurückzieht. Dinge wie Territorium, Imperium, Nationalstaat, Grenze und Zugehörigkeit spielen plötzlich eine Rolle. Das gilt auch für die Waffensysteme der Vergangenheit, deren Bedeutung als abgelebt erschien. Panzer, Artillerie, Schützengräben, Flussläufe galten als Residuen einer längst abgelebten Vergangenheit. Und die Geographie – räumliche Nähe und Ferne. Bei allem, was in Europa geschieht, rückt Deutschland wieder ins Zentrum. So erfährt auch das Wort «Geopolitik» Wiederauferstehung – und dies in einer Zeit, in der Raum durch Internet und Digitalität eigentlich aufgehoben schien. Zwei Welten kommen in eins zusammen, eben die Welt des 21. und die des 19. Jahrhunderts.

Also wieder zurück in die Vergangenheit? Führt Russland die Tradition der Roten Armee weiter fort?
Bei allen Ähnlichkeiten gilt es zwischen Russland und der Sowjetunion doch zu unterscheiden. Auch die Rote Armee war etwas anderes als die heutigen russischen Streitkräfte. Der religiös aufgeladene russische Nationalismus eines Putin ist schon etwas anderen, obwohl es auch hier so manche Überlagerung gibt. Mehr noch: Das Vorgehen der russischen Armee heute unterminiert die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Denkmäler an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg werden heute in Ostmitteleuropa geschliffen. Damit wird die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg kontaminiert. Mit allen Folgen auch für das Gedächtnis des Holocaust in diesem Raum.

Wo stehen wir, nachdem wir mit Demokratie und der Moderne so viel erreicht haben, derzeit in der Momentaufnahme?
Eine Umformung der Erinnerung und eine Interpretation gegenwärtiger Ereignisse vor der Folie des 19. Jahrhunderts begann bereits mit dem jugoslawischen Zerfallskrieg, als plötzlich vom Balkan, von den Balkankriegen, von ethnischen Bevölkerungen und auf Zugehörigkeiten beruhenden Massakern die Rede war. Die Wiederkehr historischer Räume evoziert die mit ihnen verbunden gewesenen Zeiten, etwa den Krim-Krieg 1853 bis 1856. Oder Stimmen, die auf die Möglichkeit einer polnisch-ukrainische Union verweisen. Polen hat jüngst einen gewaltigen Rüstungskauf in Südkorea getätigt, Tausende an Panzern und Hunderte an Kampfflugzeugen. Das könnte auf eine eigenständigere Politik Polens in Ostmitteleuropa verweisen, auch und gerade im Falle eines Zerfalls Russlands.

Die Frage, was die aktuelle Lage für den Migrationskontinent Europa bedeutet, stellt sich nicht nur, aber auch für die Juden und andere Minderheiten.
Die letzten 20, 30 Jahre erfolgt die Migration auf einer vertikalen Süd-Nord-Achse. Der Konflikt im Osten Europas wird die Migrationsachse ins Horizontale wenden bzw. um diese erweitern, zumal die Klimakrise die Bewegung von Menschen von Süd nach Nord weiter befeuern wird. Dies wird Fragen der Integration und damit auch der Eigentumsordnung aufwerfen, deren Dimension wir uns noch nicht so recht vorstellen können.

Zu guter Letzt die Frage, wie sehr aus Ihrer Sicht Europa für eine jüdische Zukunft noch ein guter Ort ist.
Bekanntlich nimmt ja in Krisensituationen Antisemitismus generell immer zu. Aber im Augenblick sehe ich noch keine Gefahren und Gefährdungen fundamentaler Art, was indes nicht ausschliesst, dass das, was als «jüdische Frage» verstanden worden war, sich nicht wieder artikuliert. Die jüdische Gemeinschaft könnte sich vor eine neue existentielle Situation gestellt sehen.

Macht Sie das sorgenvoll oder zuversichtlich?
Mir bereiten die Verhältnisse Sorgen, noch bevor es zu jüdischen Fragen kommt! Wir sind mit Menschheitsproblemen konfrontiert, wobei nicht auszuschliessen ist, dass dabei jüdische Besonderheiten von sich reden machen werden.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. April 2023