Verharmlosung des Antisemitismus – Ursache der Affäre Aiwanger
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Was die Affäre um das antisemitische Pamphlet des bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger von den Freien Wählern so abstoßend macht, ist das Fehlen jeglichen ehrenwerten Motivs. Dass offenbar ein Gleichaltriger nach 35 Jahren auf die Idee kommt, einen ehemaligen Mitschüler wegen eines Flugblattes gegen die Überlebenden des Massenmordes der Nazis an den Juden anzuschwärzen, ohne sich dazu zu bekennen, ist menschlich unanständig.
Hätte es jemand aus guten Gründen nicht länger mit sich herumtragen können, dass ein Mann mit anscheinend tiefer Abneigung gegen die jüdischen Mitbürger ein Amt in der bayerischen Staatsregierung bekleidet, wäre ihm sicher kein Haar gekrümmt worden. So aber bekommt die ganze Geschichte einen üblen Beigeschmack und der Beschuldigte darf zu Recht darauf hoffen, dass unbedarfte Gemüter in ihm einen Märtyrer sehen. Das Echo in der Süddeutschen Zeitung, die mit der anonymen Information an die Öffentlichkeit gegangen ist, lässt sich jedenfalls so deuten.
Ob Hubert Aiwanger das Pamphlet selber verfasst oder ob er es nur in der Schultasche mit sich herumgetragen hat, ist nebensächlich. Sein Versuch, den eigenen Bruder Helmut als Verfasser zu benennen, macht nichts besser. Das gilt auch für die Frage der Süddeutschen Zeitung, ob es sich bei dem Flugblatt um ein lässliche Jugendsünde oder einen groben Sündenfall handelt; sie geht an der Sache vorbei. Viel wichtiger ist es, sich in die Zeit zurückzuversetzen, in der die Hetzschrift entstanden ist. Welchen Beeinflussungen waren die Schüler am Burkhart-Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg ausgesetzt?
Hat die in Bayern regierende CSU genug getan, um dem grassierenden Antisemitismus entgegen zu treten? Als Mitte der 1980er Jahre wieder einmal eine Welle antijüdischer Exzesse über die Bundesrepublik schwappte, wollte die Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger von der SPD im Bundestag wissen, „welches geistige und politische Klima solche Sumpfblüten gedeihen“ lasse. Das Interesse an der Erörterung des Themas war nicht groß. Vor fast leerem Haus wandte sich Bundeskanzler Helmut Kohl am 27. Februar 1986 gegen Gedankenlosigkeit und appellierte an die Öffentlichkeit, die NS-Verbrechen niemals zu vergessen. Aber die Proportionen müssten gewahrt werden. Es gehe entschieden zu weit, von aufkeimendem Antisemitismus zu sprechen.
Das Allensbacher Institut für Demoskopie ermittelte, dass fünfzehn Prozent der Deutschen zu dieser Zeit den Juden gegenüber feindlich eingestellt waren. 66 Prozent der Befragten hätten erklärt, es müsse endlich ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden. Alarmierende Meldungen über zunehmenden Antisemitismus an den Westberliner Schulen veranlassten den Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, im Fabruar 1988 auf einer Sondersitzung des parlamentarischen Schulausschusses im Abgeordnetenhaus davor zu warnen, die antijüdischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen weiterhin zu vertuschen.
Als die amerikanische Serie „Holocaust“ in der Bundesrepublik gezeigt wurde, kritisierte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dass „mit propagandistischen Mitteln eine Hysterie gegen einen angeblichen Rechtsradikalismus betrieben werde, der jedoch in Umfang und Heftigkeit mit dem Linksradikalismus überhaupt nicht zu vergleichen“ sei. (Welt am Sonntag, 28. Januar 1979). Der bayerische Innenminister Gerold Tandler (CSU) behauptete, zahlreiche neonazistische Aktionen seien vor allem durch die Fernsehserie „Holocaust“ ausgelöst worden. Von dem Einwand der Humanistischen Union, wahre Ursache sei die „befremdliche Nachsicht der bayerischen Landesregierung gegenüber rechtsradikalen Bestrebungen“, wollte Tandler nichts wissen.
Auf dem 37. Historikertag 1988 in Bamberg warnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor Vergleichen der Naziverbrechhen mit anderen Verbrechen. „Auschwitz bleibt singulär“, erklärte er „Es geschah im deutschen Namen durch Deutsche. Diese Wahrheit ist unumstößlich.“ Das sagte der Bundespräsident im selben Jahr, in dem Helmut Aiwanger nach Angaben seines Bruders Hubert das Auschwitz-Pamphlet verfasst har. So wie es aussieht, handelte es sich nicht um eine lässliche Jugendsünde, sondern um einen groben Sündenfall, mit dem Hubert Aiwanger seine Eignung für ein Regierungsamt verloren haben sollte.
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©Auszug der Preise aus dem wirklich unsäglichen Flugblatt