br.dejugengassDAS JÜDISCHE LOGBUCH, Anfang September

Yves Kugelmann

Straßburg (Weltexpresso) - Es ist ein heißer Sonntag. Durch die pittoreske Altstadt im elsässischen Departement Bas-Rhin strömen tausende Touristen. Verlässt man die Grand Ile über den Fluss Richtung Norden, erreicht man das ruhigere Quartier Kable. Es ist das Zentrum der jüdischen Gemeinschaft. Rund 20 000 Jüdinnen und Juden sollen dort leben. Wenn man von der großen Synagogue de la Paix in die Straßen läuft, präsentiert sich gelebter jüdischer Alltag. Koschergeschäfte, koschere Restaurants, jüdische Geschäfte, Schulen, Lehrhäuser, Synagogen.

Auf den Straßen spielen jüdische Kinder, Familien machen sich auf zum nahgelegenen Park. Eine fromme, meist alteingesessene jüdische Gemeinschaft, zumeist keine ultraorthodoxe, chassidische. Juden, Christen, Muslime, Immigranten leben zusammen. Hinter der Synagoge im Park spielt eine Salsa-Gruppe. Jüdische Paare sitzen mit anderen Zuhörerinnen und Zuhörern auf Bänken. Sie lauschen der Musik, während die mehrheitlich jüdischen Kinder auf den Spielplätzen ausgelassen spielen. Die Menschen leben neben- und teils miteinander. Gegenseitige Integration, die auf Augenhöhe funktioniert mit einer jüdischen aschkenasischen, teils sephardischen Gemeinschaft, deren Mitglieder sich auch als Franzosen verstehen. Das Staßenbild ist jüdisch dominiert – kein Ghetto, kein Bonlieu, keine Parallelgesellschaft.
Dann öffnet die Synagoge am Tag der europäischen Kultur für Besucherinnen und Besucher. Im Café Abu Gosh fragt ein Gast nach der Herkunft der Schweizer Besucher. Er hat die Schlagzeilen vom Konflikt mit charedischen Touristen gelesen. Er selbst ist ein frommer Jude.

Einen Tag später im Bergdorf Gstaad. Die Saison ist vorbei. Doch die arabisch-muslimischen Gäste sind nach wie vor präsent im Straßenbild. Die Frauen tragen Kopftuch, arabische Kleidung. Sie sitzen in Cafés. Es sind vorwiegend Gäste aus Libanon, Saudi-Arabien und einige Perser. Ein einheimischer Ladeninhaber sagt, «hier nach Gstaad kommen viele muslimische und jüdische Gäste. Probleme haben wir keine.» Auch er hat die Debatte um orthodoxe Juden in Berggebieten gelesen.

Am Mittwoch in Jerusalem. Auf der Suche nach einem Sofer für eine Kunstinstallation in einem Museum führt der Weg ins orthodoxe Viertel Mea Shearim. Verlässt man die Peripherie des Quartiers und läuft in die kleinen Straßen, dann fallen Besucher von außerhalb auf. Eine andere Welt eröffnet sich einem, die mit jener in Straßburg nichts zu tun hat. Eine Art Zeitensprung zurück in eine längst vergangene Epoche auch dann, wenn immer wieder ein wenig Moderne durchdringt. Was wäre, wenn 5000 Davoser hier ihre Ferien verbringen und die Quartiere besuchen würden in anderer Kleidung, mit anderer Sprache, mit anderen Gewohnheiten? Wie würden Rabbiner des Quartiers reagieren, wie die Menschen – und wie würde man über die Davoser sprechen? Würde die wirtschaftliche Komponente alles andere in den Hintergrund stellen?

Der Davos-Gau der letzten Tage und Jahre zeigt, dass Integration gelernt, der Wille von allen Seiten vorhanden und Kompetenz bei der Vermittlung etabliert werden müssen. Davos ist kein Pausenplatz, wo Selbstregulation mit ausgewählten Schülerinnen und Schülern funktioniert. Die Probleme in Davos allerdings können nicht so groß gewesen sein, dass ein derart desaströses Bild von Juden und teils Davosern in der Öffentlichkeit gezeichnet hätte werden müssen. Doch die vor über einem Jahr vom jüdischen Dachverband groß gestartete Medienkampagne für das Likrat-Projekt zusammen mit einer Fundraisingkampagne für die fragwürdige Zukunftsstiftung, triggert das Risiko, dass es nicht mehr um die Sache selbst geht. Sinnvoller wäre vielleicht, wenn die Likrat-Vertreter eine Bildungseise nach Bne Brak und Mea Shearim unternommen und die Fragestellung von Grund auf ermittelt hätten. Die Brennpunkte dieser Parallelgesellschaften müssten von innen verstanden worden sein, bevor vorgegeben wird, man könne hier Abhilfe schaffen. Denn Vermittlungsarbeit ist keine gut gemeinte Freizeitbeschäftigung im Nebenverdienst. Die Stigmatisierung von Jüdinnen und Juden, von Schweizerinnen und Schweizern ist ein weniger Hilfreicher Seiteneffekt einer eskalierenden Debatte. Der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) ist indessen kommunikativ abgetaucht und in der Debatte nicht präsent. Vielleicht richtig so: Die ausländischen jüdischen Touristen sind keine Mitglieder jüdischer Schweizer Gemeinden, sondern zu großen Teilen Bürgerinnen und Bürger von Israel, die durch die israelische Botschaft in Bern vertreten sein sollten oder zumindest durch die Verantwortlichen der orthodoxen jüdischen Gemeinden in der Schweiz, deren Rabbiner sich der Sache vielleicht zielgerichteter annehmen und in Davos in der Gemeinschaft besser einwirken könnten. Doch vielleicht ist das Problem auch schlicht nicht lösbar und der nüchterne Blick auf die letzten Jahrzehnte sollte zu richtigen und nicht falschen Schlüssen führen. Viele Schweizer Jüdinnen und Juden blicken skeptisch auf die Vorgänge von Davos und fragen sich, wie das wohl im nächsten Jahr weitergehen soll.


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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. September 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.