Kurt erhard KarpensteinErinnerung an Weizsäckers denkwürdige Rede von 1985

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) Jahrzehnte hat es gedauert, ehe die Erkenntnis herandämmerte, dass die Zerschlagung des Naziregimes Voraussetzung war für die Rückkehr Deutschlands in die Familie der zivilisierten Völker.

Einen der Höhepunkte dieses Reifeprozesses stellte 1975 die von den Veranstaltern so bezeichnete große Kundgebung zum 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus auf dem Römerberg in Frankfurt am Main dar, zu der ein Bündnis gesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersönlichkeiten aufgerufen hatte.

Die Frankfurter Rundschau hielt es für geraten, sich durch Anführungszeichen von deren Motto zu distanzieren. Gleichwohl sprach sie rühmend von der größten Kundgebung, die es seit dem Kriegsende in Frankfurt gegeben habe. 25.000 Menschen seien vom Opernplatz aus zum Römer gezogen. Trotz „all der Massen“ habe es weder während des Demonstrationszuges durch die City noch am Römerberg irgendwelche Zwischenfälle gegeben. Begeistert seien über Lautsprecher die „Kameraden der Bundeswehr“ begrüßt worden, als diese in Uniform unter der Parole „Nie wieder Krieg“ eingetroffen seien.

Worum es den Demonstranten gegangen sei, so die Rundschau, habe der Schriftsteller Bernd Engelmann als Hauptredner deutlich gemacht. Dass der 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus kein Staatsfeiertag sei, beweise, „dass der Faschismus als latente Gefahr weiter vorhanden“ sei. Natürlich sei das nicht mehr der „gestiefelte Faschismus des Nazireiches“, sondern „ein smarter Faschismus, je nach Bedarf sportlich oder korrekt gekleidet oder im Loden-Look“. Unter lang anhaltendem Beifall habe Engelmann klargemacht, dass es darum gehe, diesen Faschismus zu schlagen, aber „nicht mit anarchistischem Terror“. Notwendig sei eine „klare Absage an jene Rattenfänger, die sich christlich und sozial nennen und so tun, als hätten sie die Demokratie erfunden“.

Da war es noch zehn Jahre hin bis zu der unvergesslichen Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der in einer Gedenkstunde des Bundestages zum 40. Jahrestag des Kriegsendes den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete. Nach seinen Worten hätten die meisten Deutschen geglaubt, für die gute Sache des eigenen Volkes zu kämpfen und zu leiden. Das sei nicht nur vergeblich und sinnlos gewesen, sondern habe den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Von Tag zu Tag sei klarer geworden, „was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Dieser Aussage fügte Richard von Weizsäcker den denkwürdigen Satz hinzu: „Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei den Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.“

Für viele seiner Parteifreunde in der CDU hatte Richard von Weizsäcker damit ein Sakrileg begangen, das sie ihm lange nachtrugen. Inzwischen sind weitere Jahre vergangen, ohne dass auch nur ein einziges Wort dieser Rede etwas von seiner Bedeutung verloren hätte. Das Bedauern, dass der 8. Mai immer noch kein Staatsfeiertag ist, geht als Auftrag an kommende Generationen über.

Foto:
Das Foto zeigt unseren heute 97jährigen Autor zur Zeit des Auschwitz-Prozesses, über den er schrieb, woürber nun wiederum WELTEXPRESSO schon öfter berichtet hat. Mit seinem Artikel sandte Kurt Nelbiebel folgende persönliche Anmkerung an die Redaktion: "Mir steht der 8. Mai 1945 so deutlich vor Augen, dass ich meine, es sei gestern gewesen, dass mir in Treuenbrietzen nach der mehrtägiger Flucht aus sowjetischer Gefangenschaft zum zweiten Mal sowjetische Soldaten gegenüberstanden, die mich aus lauter Freude über die in der Nacht unterzeichnete Kapitulation des Oberkommandos der Wehrmacht mir eine weiße Binde um den linken Arm der Wehrmachtsuniform banden und mich laufen ließen."
©Erhard Karpenstein