Die Bestsellerautorin und tachles-Kolumnistin Sibylle Berg will ins Europaparlament – ein Gespräch über die Kandidatur, Verlust der Privatsphäre, Revolution und den 7. Oktober
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - tachles: Sie kandidieren für die Europawahlen in der von Martin Sonneborn gegründeten Partei. Diese nutzt Satire als Mittel für Politik. Kann nur noch Satire die Demokratien retten?
Sibylle Berg: Erstaunlicherweise habe ich durch Martin Sonneborns Arbeit, ob in den Filmen oder Büchern, alles zur EU gelernt, was mir vorher im bürokratisch öden Nebel verborgen lag. Diese Aufklärungsarbeit ist wirkmächtiger als das unauffällige Aussitzen der Mandate eines grossen Teil der Parlamentarier. Humor, der auch in meinen Büchern und Stücken eine wichtige Rolle spielt, ist ein Stilmittel, um Realität zu ertragen – die unter Sarkasmus, Ironie und Satire verborgene Verzweiflung ob der Dummheit der Menschen lässt sich so besser ertragen. Die Demokratie muss unbedingt gerettet werden, aber vielleicht anders, als einige annehmen. Nicht durch Zensur, Fakten- Checker, die keiner checkt, nicht durch Paywalls, Verbote und Lagerbildung, sondern durch eine Umstrukturierung politischer Gremien zu einer wirklichen Bürgerbeteiligung, und einer Stärkung der unabhängigen Medien, die sich für ein Verstehen der Bevölkerung statt für deren Spaltung engagieren müssten.
Populismus auf allen Seiten ist auf dem Vormarsch, rechtsextreme Parteien Europa wachsen, Autokratien sind auf dem Vormarsch, Grenzschliessungen werden gefordert: Sie plädieren für ein vereinigtes Europa ohne Landesgrenzen. Ist das visionär oder eine Art postfaktische Utopie?
Die EU ist im Moment vor allem ein Wirtschaftsbündnis. Sie ist rechtskonservativ dominiert und hat eine Kommissionspräsidentin, die nur mithilfe rechtsnationaler Parteien gewählt wurde. Die Faschistin Giorgia Meloni ist ein gern gesehener akzeptierter Gast in der EU, die Faschistin, die gerade die Kultur einschränkt, kaputtspart, die Medien kontrolliert und eine Kampagne gegen Linke und Minderheiten initiiert. Die EU hat nichts mit einem Verbund des Zusammenhaltes, der Stärkung von Tradition und Kultur, dem wunderbaren Austausch zu tun, sondern folgt neoliberalen, rechten Gesetzmässigkeiten. Anders wäre es auch nicht zu erklären, dass einige Länder auf Grund ihrer schwachen Wirtschaft nicht in die EU aufgenommen werden, dass wir Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter haben, die ausgebeutet werden, grosse Zahlen an Elendsprostitution aus Europa haben, ganz zu schweigen von den Slums und der eher wachsenden Armutsquote in Europa. Zu schweigen auch von der geduldet diskriminierten Gruppe der Sinti und Roma, die in ganz Europa in Slums und Armut leben.
Sie sind keine Politikerin, doch Ihre Texte zeugen von hohem politischem Engagement gerade auch mit der aktuellen Trilogie. Haben Sie den Glauben an die Kraft der Literatur verloren?
Kunst ist immer noch ein Machtmittel, das Diktatoren ängstigt. Erstaunlich eigentlich. Für mich bedeutet es, als Künstlerin in reale Politik zu wechseln, nur eine Erweiterung meiner Arbeit. In der EU fehlen aktivistische und künstlerische freie Perspektiven, dafür wäre ich dann recht gut geeignet, denn ich bin unabhängig und seit Jahren aktiv engagiert, und ausserdem bin ich sehr nett.
Sie haben sich in den letzten Jahren in der Schweiz mit Initiativen etwa gegen Überwachung, für Schutz der Privatsphäre, Bewusstsein für digitale Entwicklungen eingebracht. Wieso diese Themen und weniger soziale Gerechtigkeit etc.?
In vielen meiner Texten spielen der Klassenkampf und der Kampf für eine absolute Gleichberechtigung aller Minderheiten eine grosse Rolle. In den letzten acht Jahren kam der Kampf für die Privatheit dazu, und gegen die irrwitzige Digitalisierung sensibler Daten, gegen vorsorgliche Überwachung und von KI getroffene Entscheidungen, weil digitale Werkzeuge immer mehr zu einer hocheffektiven Waffe gegen Minderheiten, gegen Aufbegehren und die Menschenrechte verwendet werden.
Wir haben hier in der Schweiz sehr unrühmliche Überwachungsgesetze per Volksentscheid eingeführt, die leider in ihrer Umsetzung den Grundsatz der direkten Demokratie des Volkes unterlaufen, weil nur eine Minderheit im Besitz all unserer persönlichen Daten und Kontakte ist, nur eine Minderheit weiss, nach welchen Algorithmen über Jobs, Kredite, und im harten Fall auch Triage entschieden wird.
Auf EU-Ebene funktioniert das Ganze noch undemokratischer, von einer nicht von der Bevölkerung gewählten Kommissionspräsidentin befeuert wird ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet, das die Bürgerinnen präventiv als Verbrecher behandelt.
Sie sind schweizerisch-deutsche Doppelbürgerin. Mit Nemo hat erstmals ein nonbinärer Mensch die Eurovision für die Schweiz gewonnen mit einem sehr politischen Text. Ein Thema, das Sie prominent in Büchern behandeln. Ist die Schweiz Europa in gelebter Freiheit voraus?
Die Schweiz ist trotz auch hier stattfindender Anfeindungen gegen Minderheiten, trotz der menschenüblichen Suche nach Schuldigen, trotz ihres sehr harten Asylgesetzes und der Unterstützung von Frontex, die den Tod von Menschen auf der Flucht in Kauf nimmt, eines der wenigen Länder, in denen man selbst als Nicht-Millionär noch gut und frei leben kann. Die Schweiz ist sicher führend in der Umsetzung direkter Demokratie – der Macht des Volkes. Leider gewinnen auch hier zunehmend neoliberale Kräfte Einfluss, die den Ausgang von Referenden und Abstimmungen mit massivem finanziellen Einsatz beeinflussen und die Armut und die Schwächung des Mittelstandes befeuern. Der Umgang mit Armut, die Wohnungsnot, das Klassen-System sind eines reichen Landes und einer Willensgemeinschaft der Solidarität unwürdig.
Sie stammen aus Ostdeutschland, leben heute in der Schweiz. Letztere ist nicht Mitglied in der EU. Wie sehen Sie das?
Ich möchte für die Schweiz in der EU arbeiten, mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Unser Land ist abhängig von den Entscheidungen in der EU, darum sollten wir mehr darüber wissen und verstehen, wie sie warum zustande kommen. Ich sehe keinen Sinn in einem Beitritt der Schweiz in die EU in der rechtsdominierten Verfassung, in der sich das Parlament dort befindet.
Der Nahostkonflikt überlagert im Moment viele politischen Debatten. Proteste auf Strassen und inzwischen an Universitäten erschrecken viele Menschen. Wie viel Protest ist legitim in einer offenen Gesellschaft?
Legitim ist erst einmal jede nicht justiziable Äußerung der Meinung, so dumm oder unfair die auch aus der Sicht vieler sein mag. Ob die Proteste sich durch Menschlichkeit und Weisheit auszeichnen, darf kein Kriterium für ihre Zulassung sein. Es gilt das Demonstrationsrecht. Abstoßend hingegen ist der Ausschluss jüdischer Stimmen, der Boykott jüdischer, israelischer Künstler, Wissenschaftler. Widerwärtig und uniformiert ist die Glorifizierung der Hamas, das Infragestellen Israels als immer noch demokratischer Staat. Wütend macht der Judenhass, der überall Raum greift, die Geschichtsvergessenheit, die Ignoranz vieler Demonstrantinnen, aber in erster Linie die fatale Uninformiertheit. Dass man für Menschlichkeit und gegen Mord, gegen Waffen und Kriege sein kann, ohne Partei zu ergreifen, sollte wieder mehr in das Bewusstsein der Mehrheiten getragen werden. Jetzt, da auch in der Kunst egomanische Stellvertreterkriege ausgeführt werden, die sich mehr damit beschäftigen, welcher nicht betroffene Künstler welche blödsinnige Meinung irgendwo gelesen hat, habe ich große Lust auf einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der wieder mehr in Aufklärung und Bildung investiert.
Es gibt weltweit eine Stigmatisierung von sogenannten woken, queeren, LGBT- etc. Menschen, die oft als linksextrem abgekanzelt werden, und Bewegungen, die gerade nach dem 7. Oktober für das lange Schweigen zu den Hamas-Massakern kritisiert wurden. Wie berechtigt ist die Kritik?
Das schockierende Ausbleiben eines Mitgefühls von linker, aufgeklärter Seite war und ist erschütternd. Die Kälte gegenüber den Opfern einer Seite hat nichts mit einer legitimen Kritik an einer faschistoiden, durch einen Coup und nicht durch den Volkswillen an die Macht gelangten Regierung zu tun, sondern trug nach meinen Beobachtungen antisemitische Züge. Ich und viele mit mir fühlten sich im Schock nach dem 7. Oktober einsam und fassungslos über die schnelle Relativierung des Massakers, das unterdessen im öffentlichen Bewusstsein vollkommen vergessen ist. Der Verlust an Sicherheit für Israelis und Juden in der Diaspora, die Gleichgültigkeit der noch in Geiselhaft und hoffentlich noch lebenden Menschen gegenüber – ist ein weiteres trauriges Kapitel in der gesellschaftlichen Simplifizierung und der Lagerbildung bei Konflikten.
Der Israel-Hamas-Krieg ist wie so vieles heute in der Zeit des verkürzten Denkens für nicht Betroffene eine Art Fussballspiel der Meinungen geworden.
Sie haben die fixe Kolumne in tachles «Die literarische Kolumne» und setzen sich in Ihren Texten und Kolumnen immer wieder für jüdische Interessen und Sichtbarkeit ein. Die jüdische Gemeinschaft macht sich zunehmend Sorgen um die Zukunft für Jüdinnen und Juden in Europa. Wo kann Ihr Programm auf solche Fragen eintreten?
Wie erwähnt, als im allerbesten Fall Zwei-bis-drei-Personen-Abordnung einer Kleinpartei kann man nicht mehr tun, als eine Sichtbarkeit herstellen, Fehlentscheidungen entlarven und versuchen, ab und zu durch Reden eine grössere Öffentlichkeit auch im Parlament zu erreichen. Ansonsten gilt für mich und für jede Einzelperson: Zuhören, diskutieren, Fakten klarstellen, und berichtigen, wann immer man auf Uninformiertheit und Vorurteile trifft. Gerade jetzt, da die jüdischen Zeitzeugen des Holocaust langsam die Erde verlassen, liegt es an jedem Einzelnen, ihren Platz einzunehmen.
Der dritte Band Ihrer Trilogie nach «GRM – Brainfuck» und «RCE – Remote Code Execution» erscheint nächstes Jahr und konzipiert den Neuaufbau der europäischen Idee nach erfolgter Revolution. 1989 erfolgte eine unblutige Revolution, und doch hat sie vieles ungelöst gelassen. Glauben Sie eher an Revolution oder gute Politik?
Das eine schließt das andere nicht aus. Ich vermute, die Utopie einer friedlichen Revolution als Initialisierung für eine neue Anordnung einer Welt ohne Wachstum, mit Gleichberechtigung, ohne Aktionäre und Finanzprodukte, ohne Überwachung und stumpfsinnige Digitalisierung, mit dem Bemühen, aus einer Aufrüstungsspirale zu gelangen, wird vermutlich nicht durch die EU in der jetzigen Form geschaffen werden.
Foto:
Sibylle Berg mit Martin Sonneborn, Bundesvorsitzender von Die Partei
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. Mai 2024