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Bildschirmfoto 2024 05 25 um 01.23.41Im Gespräch mit Dan Deutsch und Jessie Katz 

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Dan Deutsch und Jessie Katz haben das Schweizer Netzwerk NAIN nach dem 7. Oktober lanciert – im tachles-Gespräch geben sie Einblicke in die Plattform, die Strategie und die Zielsetzung.


tachles: Kurz nach den Hamas-Massakern des 7. Oktober haben Sie Chat-Gruppen etabliert und koordiniert für Aktionen, Informationen, Austausch unter Interessierten. Was wird damit bezweckt und wie?

Dan Deutsch: Nach dem 7. Oktober entstanden sehr schnell Whatsapp-Gruppen für Israelis, die in der Schweiz gestrandet waren und ursprünglich für die Feiertage gekommen waren. Diese Gruppen halfen dabei, Unterkünfte, Jobs, Lösungen für schulpflichtige Kinder oder einfach den Anschluss an regionale Gemeinden zu finden. Ebenfalls sehr präsent war von Anfang an das Bedürfnis, Israel durch Spenden zu unterstützen oder Aktivismus online über soziale Medien zu initiieren. So bildete sich rasch eine Gemeinschaft von etwa 1000 Personen, hauptsächlich aus der Ostschweiz. Aus dieser Social Media Gruppe heraus initiierten wir die erste Aktion mit den Kinderwagen in Zürich, inspiriert von einer ähnlichen Aktion in London. Innerhalb von 24 Stunden meldeten sich etwa 900 Personen aus der gesamten Schweiz, die ebenfalls teilnehmen wollten. Dieses grosse Engagement ermutigte uns, weitere kleinere Aktionen durchzuführen, bei denen jeder individuell teilnehmen und seine Solidarität mit Israel zeigen konnte.


Sie haben dann den Verein Never Again is Now (NAIN) gegründet.

Dan Deutsch: Ja, wir merkten ziemlich schnell, dass wir eine Struktur brauchten, auch, um nicht alles finanziell alleine tragen zu müssen. Wir entschieden uns für den Namen NAIN nach dem Slogan Never Again Is Now. Die ersten Aktionen, an denen wir uns als Verein beteiligten, waren etwa jene mit den Ballons am Münsterhof, den Regenschirmen sowie diverse Schabbat-Tables in den diversen Schweizer Städten, wobei aber alle Initiativen bis und mit Dezember eigenständig und individuell von uns unterstützt wurden. Zu jenem Zeitpunkt war unsere Funktion vor allem eine finanzielle Stütze und eine digitale Plattform, ein Kommunikationsmittel zu bieten.


Das hat sich dann bald geändert auch mit der Entwicklung des Konflikts, dem Gaza-Krieg und dem zunehmend artikulierten Antisemitismus auf den Strassen.

Dan Deutsch: Es gab dann auch andernorts starkes Interesse, und wir begannen, in der Schweiz wie auch im Ausland ein grosses Netzwerk aufzubauen. Das ging alles sehr schnell. Innerhalb weniger Tage erreichten wir knapp 3700 Nutzer. Heute unterhält NAIN ein Netzwerk von etwa 7500 Personen in der gesamten Schweiz, die sowohl in der Romandie als auch im Tessin und natürlich in der Deutschschweiz aktiv sind, sowie etwa 1700 Personen in Österreich, Deutschland, Italien, Ungarn, England und den USA. Zudem gehören auch Auslandschweizer, die in Israel leben, zu unserem erweiterten Netzwerk.


Nun ist NAIN über das Netzwerk hinaus auch ein Vehikel, um die Finanzen einzubringen.

Jessie Katz: Ja, wir haben eine Art Venture-Capital-Prinzip dafür angewandt, indem wir die Spender und die Empfänger koordinierten. Wir schauten auch, dass alles rechtmässig lief, Bewilligungen eingeholt wurden und kein Geld an horrend teure Projekte ging. Wir hatten so die Möglichkeit, eine ganze Palette an Initiativen zu finanzieren. Uns war es wichtig, dass wir Initiative anregen können und dass genügend Geld dafür vorhanden ist.

Dan Deutsch: Wir arbeiten hierbei alle freiwillig, und es geht uns dabei nicht um uns selbst, sondern um die Ermöglichung von Initiativen anderer.


Mit welchen Schwerpunkten und welcher Strategie?

Jessie Katz: Nach dem 7. Oktober hat sich ja die schöne Idee vom «guten Zusammenleben» in Israel, aber auch in der Schweiz verändert und es gibt unter den Schweizer Juden nun wieder vermehrt ein Unbehagen und die Angst vor Antisemitismus ist stark präsent. Es gibt jetzt ein Bedürfnis, sich gegen diese Ohnmacht zu wehren. Dies geschieht in unseren Gruppen unabhängig von der Einstellung der einzelnen politischen Einstellung zu Israel. Wir haben in unseren Chats Menschen aus vielen verschiedenen politischen Richtungen und Gesinnungen. Uns ist es wichtig, diesen Menschen eine Plattform zu bieten, um aktiv etwas gegen Antisemitismus und Antizionismus zu unternehmen.

Dan Deutsch: Unsere Strategie beinhaltet daher die klare Zielsetzung, dass wir in allen Kantonen und Landessprachen aktiv sind und dass unser Leitungsgremium nicht ausschliesslich aus jüdischen Personen zusammengestellt ist. Es ist uns wichtig, dass alle in der Schweiz lebenden Personen, welche sich mit dem Existenzrechts Israels oder dem Judentum identifizieren, gleichermassen sicher und geschützt fühlen. Entsprechend haben wir schweizweit Vertreter von NAIN aufgestellt. Etwa Nurit Braun in der Romandie, Yael Bretscher im Baselbiet sowie Thomas Patzko und Roy Mor gemeinsam mit Jessie und mir in der Deutschschweiz.


«Never Again Is Now» referiert auf die Schoah und die Idee, dass Jüdinnen und Juden sich rechtzeitig wehren sollen.

Dan Deutsch: Für uns bezieht sich der Slogan auf die am 7. Oktober 2023 von der Hamas in Israel ermordeten Personen, und NAIN bedeutet für uns auch «Nein zu Antisemitismus und Antizionismus». Daraus ergibt sich, dass unsere Arbeit nicht mit der Rückkehr der Geiseln oder dem Ende des Krieges beendet sein wird. Sie endet erst, wenn Antisemitismus und Antizionismus in der Schweiz keinen Platz mehr in der Gesellschaft haben. Das wird leider wahrscheinlich länger dauern, als wir es uns wünschen.


Ein zentrales Thema bei NAIN-Aktivitäten ist Aufklärung und Aktionen für die Geiseln in der Gewalt der Hamas.

Dan Deutsch: Genau. Wir organisieren Informationskampagnen, um das Bewusstsein für das Schicksal dieser Geiseln zu schärfen, und setzen uns aktiv für ihre Freilassung ein. Darüber hinaus initiieren wir verschiedene Aktionen, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren und Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, damit diese das Thema mit Nachdruck verfolgen. Unsere Arbeit umfasst auch die Unterstützung der betroffenen Familien, indem wir ihnen eine Plattform bieten, um ihre Geschichten mitzuteilen und Solidarität zu erfahren. Bereits früh haben wir uns mit dem Thema «Bring Them Home» durch das «Forum for Hostages and Missing Families» vernetzt. Diese Zusammenarbeit entwickelte sich von einer anfänglich reaktiven Unterstützung zu einer aktiven Partnerschaft, in der wir eigene Kampagnen entwickeln, die weltweit weitergetragen werden. Ein Beispiel hierfür ist der Hamas-Container, den Nurit Braun mit ihrem Bring-Them-Home-Geneva-Team in der Romandie gestartet hat und der derzeit durch Europa sowie in den USA auf Tournee ist. Unser internationales Netzwerk, einschliesslich unserer Kontakte in Israel, dient dabei als wichtige Anlaufstelle und hilft uns, unsere Reichweite weiter auszubauen und unsere Ziele effektiver zu verfolgen.


NAIN ist unabhängig und geht anders vor als bestehende jüdische Organisationen in der Schweiz. Wie stehet ihr mit diesen und Behörden in Kontakt?

Dan Deutsch: Wir sind unabhängig und bestehen aus einer Gruppe von Privatpersonen, die jeweils Mitglied ihrer eigenen jüdischen oder nicht jüdischen Gemeinde sind. NAIN unterscheidet sich von bestehenden jüdischen Organisationen in der Schweiz, indem wir eigenständig und flexibel auf aktuelle Ereignisse reagieren können. Dennoch pflegen wir enge Beziehungen zu anderen jüdischen Organisationen und Behörden. Mit Organisationen wie dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, CICAD sowie lokalen jüdischen Organisationen stehen wir in Kontakt, wenn es sinnvoll ist. Unsere Zusammenarbeit basiert auf einem offenen Austausch und der gemeinsamen Zielsetzung, gegen Antisemitismus und Antizionismus vorzugehen sowie die jüdische Gemeinschaft zu stärken. Wir arbeiten mit verschiedenen Gruppen zusammen, wenn wir gemeinsame Interessen haben und etwas beitragen können. Ein Beispiel hierfür ist unsere Zusammenarbeit mit einem israelischen Tech-Start-up zur Beobachtung und Kategorisierung von Einträgen in sozialen Medien, um im Online-Diskurs nicht benachteiligt zu sein. Mit den Behörden arbeiten wir eng zusammen, um Sicherheitsfragen zu besprechen und Unterstützung bei unseren Initiativen zu erhalten. Diese Kooperationen sind essenziell, um unsere Aktivitäten effektiv zu gestalten und unsere Ziele zu erreichen.


NAIN will nicht politisch sein, sich zugleich deutlich hinter Israel stellen und gerade im Social-Media-Bereich etwas bewirken. Wie das?

Dan Deutsch: Wir verlieren den Krieg in den sozialen Medien aus reinen Massegründen. Unsere Gemeinschaft umfasst etwa 16 Millionen Menschen und einige Unterstützer, während die Opposition aus Milliarden besteht. Es geht jedoch vielmehr darum, in der Diskussion präsent zu sein und nicht von ihr verschluckt zu werden. In den sozialen Medien ist der Diskurs gegen Israel leider sehr stark, auch von jüdischer Seite und von Israelis selbst, was mich verletzt und verwundert. Den Social-Media-Krieg können wir nicht gewinnen, aber wir können zeigen, dass wir noch da sind und uns nicht unterkriegen lassen.

Jessie Katz: Wir haben in diesem Bereich keine eindeutige Strategie, sondern versuchen verschiedene Ansätze. Beispielsweise haben wir Leute, die von öffentlichem Interesse sind und die sehr fragwürdige Posts veröffentlichen wie zum Beispiel Samir, auf dem Radar. Wir werden auf diese aufmerksam, da diese in den Gruppen gemeldet werden. Wir reagieren dann punktuell, um sie zur Verantwortung zu ziehen, falls es wirklich überbordet. Die Masse der «Kleinen» können wir nicht kontrollieren, auch wenn es da speziell auf X und Tiktok sehr viel Hässliches gibt.


Mit welchen Inhalten kontern Sie?

Dan Deutsch: Die Pro-Israel-Community bringt derzeit viele verschiedene Botschaften vor: Waffenstillstand, aber Geiseln zurück; humanitäre Unterstützung, aber die Hamas besiegen, und so weiter. Es sind zu viele Themen, die nicht auf einen Punkt fokussiert sind – ähnlich wie das Jüdische selbst; wir sind zwar nicht immer einer Meinung, wissen aber, wo unser Ziel liegt. Unsere «Konkurrenz» hingegen hat nur eine Kernbotschaft: «Free Palestine». Für uns ist es narrativ schwierig: Wir müssen über «Bring Them Home», die Hamas, die UNRWA und vieles mehr sprechen, einschliesslich der Schweizer Innenpolitik und Sicherheit. Es sind zu viele Themen auf einmal, und das stellt uns vor grosse Herausforderungen. Auch andere gleichgesinnte Organisationen sind mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert.


Irgendwann wird der Krieg beendet sein und eine neue Normalität einkehren. In welche Richtung wollen Sie dann gehen?

Dan Deutsch: Mein persönlicher Wunsch wäre, dass es uns irgendwann nicht mehr braucht. Aber ich glaube nicht daran, dass das passieren wird. Stattdessen wird es am Tag danach darum gehen, Aufklärungsarbeit zu leisten, kleine Kundgebungen durchzuführen und mit Behörden und akademischen Institutionen zusammenzuarbeiten sowie Medienarbeit zu leisten. Unser Ziel wird es sein, nicht zu vergessen, was in Israel passiert ist, gegen Antizionismus zu stehen und klarzumachen, dass der Krieg zwar nicht mehr präsent, aber dennoch nicht vorbei ist. Der Krieg gegen die Mächte, die uns vernichten und ausrotten wollen, wird leider weitergehen, und wir werden wohl weiterhin Attacken auf das Land und seine Bevölkerung erleben. Wir werden also weitermachen, aber auf eine andere Art und Weise als jetzt.


In welchem Rahmen können Sie sich das vorstellen?

Jessie Katz: Das Paradigma, dass man den Antisemitismus nur bekämpfen kann, wenn man den grösseren Kontext des Rassismus hereinbringt und beides kombiniert, ist in der heutigen Welt nicht mehr so anwendbar. Wir werden vermehrt mit Antisemitismus von islamistischer und linksextremer Seite konfrontiert und müssen dies spezifisch angehen. Man muss das Paradigma anpassen und sich auf diesen Antisemitismus aus bestimmten Ecken fokussieren, ohne indessen die anderen Formen des Antisemitismus zu vergessen. Dazu kommt, dass wir Schweizer Juden uns seit der Zeit mit den Holocaust-Geldern und Sigi Feigel irgendwie zurückgezogen haben – halten wir uns ruhig, dann geschieht uns nichts. Aus dieser Perspektive denke ich, dass NAIN auch hier etwas bewirken kann.

Dan Deutsch: Wir werden uns vermutlich sowohl im Aktivismus wie auch in der Gemeinschaftsarbeit bewegen und uns dort einbringen, unabhängig von den jüdischen Gemeinden. Unser Ziel ist es, alle interessierten Personen noch besser zu vernetzen und sicherzustellen, dass sie Hilfe erhalten, wenn sie diese brauchen. So hätten wir die Menschen auch schnell wieder zusammen, sollte sich erneut eine Situation wie die jetzige ergeben, in der der Aktivismus im Vordergrund steht.


Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob jemand in die Gruppe hereinkommen darf oder nicht?

Dan Deutsch: Wenn Menschen in den Kontakten eines Admins vorhanden sind, dann werden sie aufgenommen und können in fast alle Sub-Gruppen eintreten. Wenn wir jemanden nicht kennen, gibt es eine Gruppe namens New Joiners, in der wir eine Verifizierung durchführen. Dazu schreiben wir die Person an, stellen einige Fragen und bitten um eine Vorstellung. Wenn jemand dies verweigert, lehnen wir die Aufnahme sofort ab. Wenn jemand angibt, über eine bestimmte, uns bekannte Person auf uns aufmerksam geworden zu sein, kontaktieren wir diese Person zur Bestätigung. Manchmal rufen wir auch eine Drittorganisation an, die von der interessierten Person angegeben wurde. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es jedoch nicht, da wir nicht wissen, was im Kopf jeder Person vorgeht. Wenn jemand negativ auffällt, führen wir eine erneute Überprüfung durch und entfernen die Person gegebenenfalls aus der Gruppe. Das ist bereits bei Personen vorgekommen, bei denen sich herausstellte, dass sie nicht nur gegen die Regierung Netanyahu sind, sondern gegen das Existenzrecht des Staates Israel. Wir haben nichts gegen eine politische Debatte, aber die innenpolitische Lage in Israel soll keinen Einfluss auf unseren Kampf gegen den Antisemitismus in der Schweiz oder den Krieg gegen die Hamas haben.

Jessie Katz: Wobei wir in den Gruppen auch Leute mit links- und rechtsextremem Gedankengut rausgeworfen haben. Eine klare Maxime gilt jedoch unabhängig von der Haltung: Wer das Existenzrecht Israels anzweifelt, hat nichts in den Gruppen verloren.


Soziale Medien sind ein Mittel für Lösungen für Probleme, die sie zugleich generieren. Wie erklären Sie $ihren Kindern, die richtig Nutzung?

Dan Deutsch: Das ist tatsächlich ein schwieriges Thema. Meine Kinder sind alle noch minderjährig und sehr an sozialen Medien interessiert. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht dazu befragt werde oder mein ältester Sohn wissen will, wann er endlich soziale Medien nutzen darf. Ich versuche ihnen zu erklären, dass soziale Medien zwar cool und wichtig sind, weil sie heute eine essenzielle Art der Kommunikation bieten. Aber man muss einfach vorsichtig sein, wem man was von sich erzählt. Besonders in Zeiten wie diesen, in denen starker Antisemitismus in den sozialen Medien verbreitet ist, bergen diese Plattformen erhebliche Gefahren für Jugendliche. Soziale Medien können viele Vorteile bieten, aber sie können auch Probleme generieren, wenn man nicht vorsichtig ist. Deshalb ist es wichtig, stets achtsam zu sein und zu überlegen, welche Informationen man teilt und mit wem.

Fotos:
Dan Deutsch (l.) und Jessie Katz initiierten die Plattform Never Again Is Now mit Ziel, über Israel aufzuklären und Antisemitismus vorzubeugen.
©tachles

Info:
Informationen unter:
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Linkedin.com/company/nainswitzerland


 Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. Mai 2024