Europawhl 2024Argumente von gestern haben ihre Bedeutung verloren

Conrad Taler

Bremen (Weltexpresso) – Ich bin 97 Jahre alt und habe alle Wahlen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland mit wachen Sinnen erlebt. Kein einziges Wahlresultat hat mich so aufgewühlt, wie das Ergebnis der Wahl zum europäischen Parlament.

Bestimmte Lehren der Geschichte haben offensichtlich ausgedient. Anders lässt sich kaum erklären, dass eine Partei, in der ein Mann wie Björn Höcke eine führende Rolle spielt, zur zweitstärksten politischen Kraft in Deutschland aufsteigen konnte. Es hat nichts genutzt, dass die Alternative für Deutschland seit Anfang 2021 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall bewertet wird. Über ihren Charakter sagt das ohnedies wenig aus. Das Bundesverfassungsgericht behandelt Parteien mit einem Hang nach Rechtsaußen seit jeher mit Samthandschuhen.

Als der Bundesrat einen Vorläufer der AfD, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) verbieten lassen wollte, holte er sich beim Bundesverfassungsgericht eine Abfuhr. Das Gericht kam 2017 zwar zu dem Schluss, dass die NPD die bestehende Verfassungsordnung beseitigen wolle, aber es sah keine konkreten Hinweise, dass sie damit Erfolg haben könnte, auch wenn sie mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt sei. Ein Parteiverbot als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Verfassung sei jedenfalls nicht notwendig.

Diese Argumentation kam der 2013 gegründeten Alternative für Deutschland wie gerufen. In rascher Folge zog sie in alle deutschen Landesparlamente ein und war nach der Bundestagswahl 2017 mit 12,6 Prozent der Stimmen drittstärkste Partei im Parlament. Bei der jetzigen Europawahl wurde die AfD in allen ostdeutschen Bundesländern einschließlich Berlin mit 27,1 Prozent deutlich stärkste Kraft vor der CDU mit 20,7 Prozent. Auf dem dritten Platz landete aus dem Stand heraus das Bündnis Sahra Wagenknecht mit 13, 1 Prozent. Die Ampelparteien liegen deutlich abgeschlagen dahinter. Die SPD erreichte 11,4 Prozent, die Grünen 6,4 Prozent und die FDP 3 Prozent. Die Linke kam auf 5,5 Prozent.

Was die jungen Wähler betrifft, so haben viele bei der Europawahl den etablierten Parteien den Rücken gekehrt. Massiv abgestraft wurden die Grünen. Den Erfolg der AfD bei den jungen Wählern führen Experten unter anderem auf ihre TikTok-Präsenz zurück. CDU und CSU sind die einzigen alten Parteien, die bei den jungen Wählern deutlich Stimmen hinzugewinnen konnten.

An Zugkraft verloren haben auf der rechten Seite des politischen Spektrums Erinnerungen an die Erfolgsgeschichte der Rechtsextremisten in der Endphase der Weimarer Republik, während Sahra Wagenknecht davon profitieren konnte, dass früher übliche Angriffe und Argumente im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in der kommunistischen Plattform der Linksfraktion im Bundestag bei der jetzigen Wahl weitgehend ausgeblieben sind. Insofern haben wir es hier mit einer wirklichen Zeitenwende zu tun.

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