Redaktion tachles
Tel Aviv (Weltexpresso) - Es ist nichts Neues, wenn Israelis ihr Glück im Ausland suchen. Und stets hat es auch Bürger des jüdischen Staates nach Kanada getrieben. Weil sie dort einen spannenden Job fanden, weil sie die Natur liebten, oder einfach: um ein paar Jahre Auslandserfahrung zu sammeln. Doch seit der versuchten Justizreform und dem Massaker vom 7. Oktober ist alles anders: Fast 8000 Israelis haben in diesem Jahr bislang kanadische Arbeitsvisa bekommen, das sind fünfmal soviel wie noch 2023.
Und die Gründe, warum sie nach Kanada gegangen sind, erwecken eher das Gefühl einer Flucht aus ihrem Heimatland als pure Abenteuerlust. Viele bestätigen das. Tatsächlich habe es in diesem Jahr zwei Wellen von Auswanderern gegeben, wie Ayelet Heilweil bestätigt. Sie hat eine WhatsApp Gruppe gegründet, um israelischen Neuankömmlingen in Kanada zu helfen: «Von Dezember 2023 bis dieses Jahr im Juli kamen Leute, die einfach schnell einige Dinge zusammengepackt hatten und buchstäblich nach Kanada geflohen sind. Die meisten sind Familien mittleren Alters, deren Prioritäten sich schlagartig veränderten und die hier völlig unvorbereitet ankamen.
Die zweite Welle, also seit Juli, nachdem Kanada angekündigt hatte, auch weiterhin temporäre Arbeitsvisa zu vergeben, sind Menschen, die ein bisschen mehr Zeit hatten, sich vorzubereiten». Die Gründe für die Auswanderung sind offensichtlich: Angst vor der Zukunft für die eigenen Kinder in Israel, die illiberale Justizreform, der Militärdienst, der einer Familie immer mehr Opfer abverlangt, während die Ultraorthodoxen nichts riskieren müssen. Unter den israelischen Auswanderern sind auch etliche arabische Israelis, die unter den gegebenen Umständen nicht mehr an ein gleichberechtigtes Miteinander von Juden und Arabern glauben.
Diese Auswanderungstendenzen sieht man in vielen Ländern. Eine Israelin, die vor vier Jahren mit ihrer Familie nach London zog, weil sie einen attraktiven Job im Medi-Tech-Bereich erhielt, wollte eigentlich nur ein paar Jahre bleiben, um dann wieder zurückzukehren nach Tel Aviv. Doch sie kehrt nicht mehr zurück. «Was erwartet uns dort noch?» sagte sie in einem Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen. Sie wohnt nördlich von Hampstead in London. Allein dorthin seien in den letzten 12 Monaten 60 neue israelische Familien gezogen. Und sie alle glauben aufgrund der politischen Entwicklungen nicht mehr daran, dass sie in ihre Heimat zurückkehren können oder wollen. Diese Auswanderer könnten erst die Vorhut eines grossen Braindrains aus Israel sein.
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Immer mehr Israeli verlassen ihr Land
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27. November 2024