Das jüdische Logbuch Mitte Januar
Yves Kugelmann
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vor dem Jüdischen Museum erinnert die Stimme einer Soundinstallation mit den Namen und dem Alter der Geiseln sowie die blau illuminierte Skulptur «Untitled» des israelischen Künstlers Ariel Schlesinger an das Schicksal der Geiseln. Wie aus einer Parallelwelt dringen die Nachrichten herein, dass die faschistischen Mitglieder von Israels Koalition, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, gegen einen Waffenstillstand in Gaza sind. Sie wollen das Martyrium von Masada heraufbeschwören – und damit letztlich das Martyrium der Jüdinnen und Juden in der Welt, von denen viele auf die Rückkehr der Geiseln in der Gewalt der Hamas hoffen. Wer hätte sich je vorstellen können, dass eine israelische Regierung Land über Menschen und nicht mehr Menschen vor Land stellen würde?
Im Buchzentrum am Bahnhof findet sich eine Auslage mit über 30 Titeln zu Nahost und jüdischen Themen. Etwas versteckt liegt ein Buch mit dem poetischen Titel «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» von Nadine Olonetzky, die 1962 in Zürich geboren wurde. Notorische Verspätungen der Bahn werden so zu geschenkter Lesezeit. Das Buch erzählt von einer Spurensuche innerhalb der Familie – wieder ein jüdisches Schicksal, geprägt von Vertreibung, Flucht und Neuanfang. Der Neuanfang wird zum Mantra der jüdischen Geschichte. Vielleicht gilt das auch für Israel in dieser Woche: Für die 33 von 98 Geiseln, die bald zurückkehren sollen.
Ein Neuanfang für Menschen und ein Land, in dem der gemeinsame Nenner immer kleiner und die äußere Hülle des Nationalismus immer größer wird. Masada war immer die schlechteste aller Optionen – und eine, die der jüdischen Geschichte eigentlich widerspricht. Dennoch ist der Massenselbstmord am Toten Meer zum Staatsmythos geworden.
Am Abend sitzt ein 63-jähriger Mann am Tisch, dessen guter Freund Schwester und Schwager beim Massaker vom 7. Oktober verloren hat. Fragen über Fragen, Ungewissheit über Ungewissheit und optimistische Skepsis für die nahe Zukunft überlagern das Gespräch: Die Volatilität der Gegenwart mit der Willkür rascher politischer, technischer und gesellschaftlicher Veränderungen bedroht gerade den Raum, in dem sich viele sicher fühlten – die Demokratie.
«Wir werden um sie kämpfen. Das hätte ich mir noch vor zwei Jahren nicht vorstellen können.» Doch die Frankfurter Schule ist nicht weit entfernt. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mahnten in ihrem Werk «Dialektik der Aufklärung», das sie im amerikanischen Exil verfassten: «Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.»
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Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. Januar 2025