Jahidne Engel cut heller 2Serie: Das brennende Haus der Nachbarn – Ukraine, Teil 2

Rüdiger Walter

Aalen (Weltexpresso) - Jahidne ist ein kleines, landwirtschaftlich geprägtes Dorf von knapp 400 Einwohnern im Norden Ukraines nahe der belarusischen Grenze, 15 km südlich von Tschernihiv gelegen. Die Europäische Fernstraße 95 von St. Petersburg nach Odesa führt direkt am Ort vorbei, von dort aus sind es noch 120 km in südlicher Richtung bis Kyiv. 70 Kilometer westlich Jahidnes erhebt sich wie das drohende Monument einer untergegangenen Ära der Betonsarg von Chornobyl. Wie Bucha, Irpin oder Mariupol wurde auch das beschauliche Jahidne zu einem Synonym für die Kriegsverbrechen der russischen Armee.


Jahidne wird am 3. März 2022 von russischen Truppen besetzt. Zwei Tage später treiben die Invasoren die Dorfbewohner zusammen und sperren sie in den Keller der örtlichen Grundschule – 360 Menschen, darunter 77 Kinder, zusammengepfercht auf 197 Quadratmetern, ohne Wasser, ohne Belüftung, ohne Toiletten, nur ein paar Blecheimer für die Notduft. Das jüngste Kind ist 6 Wochen alt, die älteste Person 93 Jahre. Die Luft im dunklen Verlies ist zum Ersticken. 200 Gramm Suppe ist alles, was die Besatzer ihren Geiseln pro Tag zubilligen, später, unregelmäßig, auch etwas Brot. Die Menschen, dicht an dicht gedrängt, können kaum schlafen – wer sich hinlegt, braucht mehr als den halben Quadratmeter, der jedem Einzelnen zur Verfügung steht, also wechseln sie sich ab. Für die schon gesundheitlich angeschlagenen Alten wird der Keller zur Todesfalle: Dmytro Muzyka ist der Erste, er stirbt am 9. März. In den folgenden Tagen sterben 9 weitere alte Menschen.

Jeder der Gestorbenen sei zuvor „verrückt“ geworden, berichten später die Überlebenden, die deren Delirium hautnah miterleben müssen. Der russische Kommandant bleibt ungerührt und bestimmt, dass erst 5 Leichen zusammen kommen müssen, bevor einer Handvoll Gefangenen erlaubt wird, sie auf Schubkarren zum Friedhof zu bringen. Also werden die Toten in den Heizungsraum gelegt, tagelang liegen sie dort. Neben den Toten spielen die Kinder. Es kommt zu einer Windpocken-Epidemie: Fast alle Kinder und viele Erwachsene erkranken, Zugang zu medizinischer Hilfe und zu Medikamenten verwehren die Besatzer(1). Sieben weitere Gefangene werden nach und nach aus dem Keller abgeführt und von den Besatzern exekutiert, darunter Roman Nezhyborets, dessen Verbrechen es ist, Journalist zu sein und das Mobiltelefon seines 7-jährigen Sohnes versteckt zu haben. Ihn einfach nur zu töten reicht den Sendboten der russischen Zivilisation allerdings nicht, Roman Nezhyborets Leichnam weist außer der tödlichen Schusswunde in der Brust auch gefesselte Hände und zerschossene Kniescheiben auf(2).

Ihrer Mobiltelefone beraubt und abgeschnitten von der Welt verlieren die Menschen jegliche Hoffnung. Sie schreiben ihre Namen an die Wände, für den Fall, dass eines Tages die Todeskammer entdeckt werden würde. Die russischen Soldaten hingegen haben gewaltigen Spaß an der Grausamkeit: 10 Gefangene, verkünden sie eines Tages, dürften sich für ein paar Minuten die Beine an der frischen Luft vertreten. Nachdem die Gemarterten ausgehandelt haben, wer zu den Glücklichen gehören soll, werden die Auserwählten den Kellergang entlang geführt. Doch an der Treppe angelangt, treiben die Soldaten sie wieder zurück in die stickigen Räume – es war doch nur ein Witz.

Das Martyrium der Bewohner im Keller von Jahidne wird 25 Tage andauern, bis die ukrainische Armee die Invasoren aus den nördlichen Landesteilen vertreibt. Am 31. März können die Menschen endlich den Kerker verlassen. Doch ihre Gesundheit ist ruiniert, 15 weitere Bewohner werden binnen Jahresfrist sterben. Die Überlebenden finden ihre Häuser weitgehend zerstört und vollkommen ausgeplündert wieder. Ein alter Mann trauert um seine einzige Kuh, die im Garten liegt, erschossen, einfach so. Dort wird sie noch wochenlang liegen müssen, denn selbst die Gemüsegärten sind vermint. Es ist zu gefährlich, sie zu begraben.

Später kommen Psychologen nach Jahidne. Sie hören den Traumatisierten zu und überzeugen sie, über das Erlebte zu sprechen. Ja, das helfe, ein wenig, sagen die Überlebenden. Dann kommen Busladungen ukrainischer Jugendlicher und helfen den Bewohnern unter Technoklängen, deren Häuser zu reparieren. Einige von ihnen haben sich zu einem Laienchor zusammengeschlossen und singen auf einer Wiese für die Dorfbewohner. Die wiederum erzählen den Freiwilligen von ihren Erlebnissen. Aber – sagt einer der einheimischen Jugendlichen mit einem Anflug von Resignation – die verstehen das nicht. Sie können es nicht verstehen. Niemand, der das nicht erlebt hat, kann das begreifen.

Eine lettische Organisation hat eine Art Patenschaft für den Wiederaufbau des Dorfes übernommen. Sie helfen tatkräftig und effizient. Die Stimmung in Lettland ist eine andere als die in Deutschland. Letten haben eine Vorstellung davon, was es bedeutet, gegen den eigenen Willen in die Russki Mir, die russische Welt, gezwungen zu werden. Ihre Gedanken kreisen mehr um Solidarität als um Sankt-Florians-„Kriegsmüdigkeit“.

Jahidne NamenDie Schule selbst ist in doppelter Hinsicht zu einem steinernen Zeugnis geworden. Unten, im Kellergeschoss, dokumentieren die Wände die Leiden der gequälte Kreatur. Rechts neben einer der Türen sind die Namen der im Keller Gestorbenen eingraviert, damit niemand sie vergesse. Auf der linken Seite der Tür stehen die Namen der zur Exekution Herausgeführten. Die oberirdischen Geschosse dokumentieren hingegen eine ganz andere Welt, eine Welt des Zynismus, des Hasses und der Verachtung. Die Graffitis dort besagen „Ukrainer“ – oder vielmehr ein Schimpfwort für Ukrainer - „sind Teufel(3). Und draußen im Eingangsbereich steht in großen Lettern „Achtung Kinder“. In der Schule war nämlich auch die Kommandantur der russischen Einheit untergebracht. Die im Keller unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepferchten Geiseln dienten den russischen Militärs als menschliches Schutzschild. Sie wussten, dass die Ukrainische Armee niemals auf das Gebäude schießen würde im Wissen, dass der Keller voller Geiseln sei.

Die russische Armee selbst ist frei von solchen Skrupeln: Als die Stadtverwaltung von Mariupol die Luftschutzkeller des dortigen Theaters zum Schutz von Zivilisten bereitstellte, schrieben sie das russische Wort für „Kinder“ in großen Lettern auf die Vorplätze beiderseits des Gebäudes, auf einen Rest von Menschlichkeit der Angreifer vertrauend und darauf, dass sie wenigstens nicht wissentlich Kinder ins Visier nehmen würden. Sie ahnten nicht, dass das erst recht eine Einladung sein würde: Am 16. März 2022 griffen russische Kampfflugzeuge das Theater mit bunkerbrechenden 500-kg-Bomben an(4). Die Zahl der Todesopfer ist bis heute unbekannt. Sie wussten genau, was sie taten. Dass die ukrainische Armee sich anders verhalten würde, stellt im Mindset russischer Militärs nichts anderes als eine ausbeutbare Schwäche dar.

Die Grundlage des Verhaltens der russischen Invasoren besteht, ganz ähnlich dem Wüten der nationalsozialistischen Wehrmacht im als „Partisanenkampf“ verklausulierten Vernichtungskrieg, in der Zusicherung absoluter Straflosigkeit. Jede Grausamkeit, alles Morden und Foltern russischer Militärs wird vom russischen Staat gedeckt, niemand wird für seine Taten zur Verantwortung gezogen. Damit wollen sich Journalist*innen des ukrainischen öffentlich-rechtlichen Senders Suspilne nicht abfinden. Sie nehmen Kontakt zu den Überlebenden von Jahidne auf und begeben sich auf die Suche nach dem kommandierenden Offizier der Mörder von Jahidne, von dem sie bis dahin nur den Decknamen „Ahorn“ kennen. Ihre Suche wird über ein Jahr dauern. Aber irgendwann entdecken sie in russischen sozialen Netzwerken das Video eines Soldaten, der einen Hund herzt und sich als Fan der russischen Schlagersängerin Chicherina zu erkennen gibt. Auf ihn passt die Beschreibung und die Überlebenden erkennen ihn als jenen Kommandanten von Jahidne.

Schließlich können sie den Mann identifizieren als Oberleutnant Semen Aleksandrovich Solovov, geboren 1987, vom 228. motorisierten Regiment aus Yekaterinburg. Nun haben sie einen Namen und ein Gesicht. Zahlreiche Einwohner von Jahidne identifizieren ihn zweifelsfrei als jenen Kommandanten „Ahorn“. Zunächst nehmen die Journalist*innen unter einem Vorwand Kontakt mit Solovov alias „Ahorn“ auf. Der lädt sie erfreut an seine neue Wirkungsstätte in Luhansk ein. Als sie sich jedoch als Reporter*innen zu erkennen geben und ihn auf Jahidne ansprechen, gerinnt der Herr über Leben und Tod zu einem feigen Würstchen. Er leugnet wie ein ertapptes Kind, er selbst zu sein. Nein, er sei jemand ganz anderes, er sei zuletzt vor 5 Jahren in Ukraine gewesen, jener Kommandant Solovov sei schon vor langer Zeit ums Leben gekommen und da und dort beerdigt. Eine Journalistin antwortete ihm: „Semen, benehmen Sie sich wie ein Offizier! Stellen Sie sich nicht tot!“. Danach brich der Kontakt ab, aber die Journalist*innen haben genug Erkenntnisse gesammelt, um sie an die ukrainische Staatsanwaltschaft weiterzureichen. Die Beweise sind erdrückend. Es wird ein Gerichtsverfahren geben und der Schlager- und Hundeliebende Mörder von Jahidne wird in Abwesenheit für seine Taten verurteilt werden. Ein internationaler Haftbefehl wird ausgestellt werden. Semen Aleksandrovich Solovov alias Oberleutnant „Ahorn“ wird nie wieder in ein zivilisiertes Land reisen können und er wird sein ganzes Leben lang in der Furcht leben, eines Tages dafür geradestehen zu müssen, was er den Einwohnern von Jahidne im Rausch der neuJahidne Engel cut 800x500 1.jpg vermeintlichen Straflosigkeit angetan hat.

Die Wandmalereien des Kellergefängnisses von Jahidne geben neben all dem dort festgehaltenen Grauen auch ein einzigartiges Zeugnis von Menschlichkeit und Würde preis. Ganz unvermittelt zwischen all den Dokumenten unbeschreiblichen Leids sitzt dort, in den Putz gekratzt, sehr kunstvoll, sehr schlicht und von anrührender, überwältigender Schönheit, den Kopf gesenkt und die Haare vor das Gesicht geworfen, ein erschöpfter, trauriger Engel und wacht über die Toten und die Überlebenden von Jahidne(5).

 

(1)https://www.theguardian.com/world/2022/apr/08/yahidne-villagers-kyiv-ukraine-school-basement-russian-occupation, https://www.ukrinform.de/rubric-ato/3503281-kz-jahidne-leben-und-tod-in-einem-dorf-in-region-tschernihiw-fotochronik-des-krieges.html,
https://apnews.com/article/russia-ukraine-kyiv-europe-8fc19b96f035bd21fe14a0ec71982aa9, https://www.arte.tv/de/videos/114586-000-A/das-kellergefaengnis-von-jahidne/

(2)https://cpj.org/2022/04/after-russian-withdrawal-ukrainian-journalists-found-killed-in-bucha-and-yagodnoye/

(3)Elie Wiesel Memorial Lecture von Timothy Snyder am 26. 10. 2022, dort ab 13:00: https://www.youtube.com/watch?v=d_2y2LgTvoI&t=428s

(4) https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/06/ukraine-deadly-mariupol-theatre-strike-a-clear-war-crime-by-russian-forces-new-investigation/

(5) https://www.arte.tv/de/videos/114586-000-A/das-kellergefaengnis-von-jahidne/, bei 7‘53‘‘


Foto:
©Verfasser
©Arte

 

Info:

Die Artikel folgen der Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag am 27. 1. 2025 in der Stadtkirche Aalen

Video-Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=gX_iyBeUyKY

 

Leseempfehlungen

Zur Gewaltgeschichte Osteuropas:

Timothy Snyder: Bloodlands
Europa zwischen Hitler und Stalin C.H.Beck, 34.- €

 

Zum Holodomor:

Anne Applebaum: Roter Hunger
Stalins Krieg gegen die Ukraine Siedler, 39.- €

 

Zur Geschichte Ukraines:

Serhii Plokhy: Das Tor Europas
Die Geschichte der Ukraine Hoffmann und Campe, 30.- €

 

Yaroslav Hrytsak: Ukraine
Biographie einer bedrängten Nation C.H.Beck, 34.- €

Literarische Annäherungen:

Francesca Melandri: Kalte Füße
Wagenbach, 24.- €

 

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Haymon, 22.90 €

 

Namen und Schreibweisen 

Dieser Text weicht in zweierlei Hinsicht vom allgemeinen Sprachgebrauch ab:

  1. Ukrainische Orte werden mit ihren ukrainischen Namen bezeichnet. Die in der deutschen Sprache gebräuchlichen Ortsnamen sind nahezu durchgängig Transkriptionen der russischen Bezeichnungen: Die Hauptstadt Ukraines heißt „Kyiv“ (oder „Kyjiv“). „Kiew“ ist die Transkription des russischen Namens der Stadt. Odesa etwa wird im Ukrainischen mit einem „s“ geschrieben, das Doppel-S entspricht der russischen Schreibweise. Chernobyl heißt eigentlich Chornobyl, der Dnjepr Dnipro. Im deutschen Sprachgebrauch spiegelt sich also unreflektiert der Blickwinkel der Kolonialmacht wider.
  2. Das Land wird als „Ukraine“ bezeichnet und nicht als „DIE Ukraine“. Der im Deutschen gebräuchliche Artikel verweist ebenfalls auf eine koloniale Sichtweise: Sie nimmt nicht ein politisches und gesellschaftliches Gemeinwesen, eine Nation, in den Blick, sondern vielmehr ein Territorium. Weitergedacht: Ein Territorium, das in irgendjemandes Besitz ist, eine Art Niemandsland, eine Kornkammer, bereit für den Eroberer. So haben das die Zaren gesehen, die Bolschewiki und auch die Nazis. Auch diese mentale Erbschaft gilt es sich bewusst zu machen - und auszuschlagen.