pro AsylSerie: Das brennende Haus der Nachbarn – Ukraine, Teil 1

Rüdiger Walter

Aalen (Weltexpresso) - Zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2025 luden die Evangelische Kirchengemeinde Aalen und Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. zu einer Veranstaltung in der Stadtkirche Aalen ein. Die diesjährige Veranstaltung war dem Thema „Das Brennende Haus der Nachbarn – Ukraine“ gewidmet.


Im Herzen Europas tobt ein Krieg, der in vielfacher Hinsicht alle nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten zivilisatorischen Schranken und die fragile internationale Rechtsordnung in Frage stellt. Dieser Krieg weist in aller Eindeutigkeit einen Angreifer und einen Angegriffenen auf sowie eine Systematik von Menschenrechtsverletzungen, wie sie Europa seit dem Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten nicht mehr gesehen hat. Doch vielfach werden diese einfachen Erkenntnisse zerredet – ungeachtet der Tatsache, dass russische Politiker und Medien ihre genozidalen Intentionen so unverblümt wie kaum jemals in der Geschichte formulieren, und ungeachtet der unübersehbaren Realität flächendeckender Folter, Massenexekutionen, Deportationen und Raketenangriffen auf Wohnhäuser und zivile Einrichtungen. Diese Veranstaltung möchte dazu beitragen, Klischees zu überwinden, den Blick zu öffnen auf unsere Nachbarn, die um ihr Überleben kämpfen und besser zu verstehen, was für unsere gemeinsame Zukunft auf dem Spiel steht.

Begleitet wurde die Veranstaltung von Viktoria Leléka und ihrem Pianisten Povel Widestrand. Die in Berlin lebende, vielfach preisgekrönte ukrainische Jazz-Sängerin verknüpft traditionelles ukrainisches Liedgut mit zeitgenössischen Jazz-Arrangements.


„Kriegsmüde“

Es hat keine drei Monate gedauert, da war das Wort in der Welt. Seit dem Sommer 2022 vermelden deutsche Medien im Monatstakt: „Die Deutschen“ seien angesichts des russisch-ukrainischen Krieges „kriegsmüde (1).

Die Formulierung „die Deutschen“ ist Journalistensprech: Gemeint ist ein nicht bezifferbarer und auch nie wirklich bezifferter Prozentsatz der Bevölkerung. Seriöse Umfragedaten gibt es nicht, bestenfalls wird eine Telefonbefragung zweifelhafter Qualität als Beleg herangezogen, in der nach irgendetwas gefragt wird, was dann als „Kriegsmüdigkeit“ gedeutet wird: Tun die Deutschen zu viel oder zu wenig für Ukraine, oder ist es genau richtig?

Und was bedeutet der Begriff „kriegsmüde“ in einem Land, das sich selbst keineswegs im Krieg befindet? Auf die Zuschauer bezogen meint das Wort in Wirklichkeit, überdrüssig zu sein, daran erinnert zu werden, dass Andere den Krieg ertragen müssen, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Die, die das Recht hätten, kriegsmüde zu sein, können es sich nicht leisten. Diejenigen aber, die das Recht, kriegsmüde zu sein, nicht haben, weil es Andere sind, die dem Krieg ausgesetzt sind, gebrauchen das Wort, ohne sich zu schämen.

Ein Adjektiv allerdings darf bei all dem medialen Gerede niemals fehlen: Sie nimmt stets nur zu, die vorgeblich „steigende“ Kriegsmüdigkeit der Deutschen. Anderenfalls würde es als mediale Meldung nicht taugen. Ohnehin wird nicht wirklich etwas vermeldet – nichts wird beziffert, das Schlagwort bleibt undefiniert. Es ist nur Gerede. Die Gesetze des Medienmarktes besagen allerdings, wenn alle es sagen, ist es nie verkehrt, es selbst auch zu sagen. Das erzeugt Stimmung. So bewirkt die Rede von der „Kriegsmüdigkeit“ am Ende genau das, was sie lediglich vorgibt, zu vermelden: Die Gewöhnung an die Gleichgültigkeit. Die entspricht, sagen die Medien, sozusagen der soziologischen Normalität. Und wenn das so ist, dann muss man auch nichts mehr mit dem eigenen Gewissen aushandeln. Es genügt, das zu empfinden, was – angeblich – alle empfinden.

Die Obszönität des Wortes geht dabei unter. Das Haus der Nachbarn brennt. Und das stört die Party im deutschen Pavillon.

 

(1) Z.B. https://taz.de/-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5857171/, https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/analyse-von-ulrich-reitz-die-deutschen-werden-kriegsmuede-und-kanzler-scholz-weiss-das-nur-zu-gut_id_111512811.html,
https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Nein-die-Deutschen-koennen-nicht-kriegsmuede-werden-Kommentar-zum-Ukraine-Krieg-article23575255.html

 

Info:

Die Artikel folgen der Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag am 27. 1. 2025 in der Stadtkirche Aalen

Video-Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=gX_iyBeUyKY

 

Leseempfehlungen

Zur Gewaltgeschichte Osteuropas:

Timothy Snyder: Bloodlands
Europa zwischen Hitler und Stalin C.H.Beck, 34.- €

 

Zum Holodomor:

Anne Applebaum: Roter Hunger
Stalins Krieg gegen die Ukraine Siedler, 39.- €

 

Zur Geschichte Ukraines:

Serhii Plokhy: Das Tor Europas
Die Geschichte der Ukraine Hoffmann und Campe, 30.- €

 

Yaroslav Hrytsak: Ukraine
Biographie einer bedrängten Nation C.H.Beck, 34.- €

Literarische Annäherungen:

Francesca Melandri: Kalte Füße
Wagenbach, 24.- €

 

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Haymon, 22.90 €

 

Namen und Schreibweisen

 

Dieser Text weicht in zweierlei Hinsicht vom allgemeinen Sprachgebrauch ab:

  1. Ukrainische Orte werden mit ihren ukrainischen Namen bezeichnet. Die in der deutschen Sprache gebräuchlichen Ortsnamen sind nahezu durchgängig Transkriptionen der russischen Bezeichnungen: Die Hauptstadt Ukraines heißt „Kyiv“ (oder „Kyjiv“). „Kiew“ ist die Transkription des russischen Namens der Stadt. Odesa etwa wird im Ukrainischen mit einem „s“ geschrieben, das Doppel-S entspricht der russischen Schreibweise. Chernobyl heißt eigentlich Chornobyl, der Dnjepr Dnipro. Im deutschen Sprachgebrauch spiegelt sich also unreflektiert der Blickwinkel der Kolonialmacht wider.
  2. Das Land wird als „Ukraine“ bezeichnet und nicht als „DIE Ukraine“. Der im Deutschen gebräuchliche Artikel verweist ebenfalls auf eine koloniale Sichtweise: Sie nimmt nicht ein politisches und gesellschaftliches Gemeinwesen, eine Nation, in den Blick, sondern vielmehr ein Territorium. Weitergedacht: Ein Territorium, das in irgendjemandes Besitz ist, eine Art Niemandsland, eine Kornkammer, bereit für den Eroberer. So haben das die Zaren gesehen, die Bolschewiki und auch die Nazis. Auch diese mentale Erbschaft gilt es sich bewusst zu machen - und auszuschlagen.