Feature „Kirche und Politik“, Teil 5/8
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Rolf Denter, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinden Dortmund – Oberbecker und Dortmund – Niederbecker, lag leblos auf einer Krankentrage, als Gisbert Wöhrmann zögernd das Pfarrhaus betrat. Die Haustür hatte offen gestanden, ebenso die zum Büro. Mit ungewohnter Zurückhaltung näherte er sich dem Toten, der von zwei Polizisten bewacht wurde.
Dann schaute er mit fragendem Blick den Notarzt an. Der erkannte ihn, schließlich war der Bergwerksdirektor eine im Stadtteil bekannte Persönlichkeit, und informierte ihn kurz und bündig:
„Frau Denter fand ihren Mann vor etwa einer Stunde in diesem Büro, regungslos und mit dem Oberkörper vornübergebeugt auf dem Schreibtisch. Anscheinend hatte er eine Predigt vorbereitet, einige Blätter des Manuskripts weisen Blutflecken auf. Aber es war kein gewaltsam herbeigeführter Tod. Pastor Denter ist Opfer seiner Lebererkrankung geworden. Und es scheint so, als hätte er heute – und vermutlich nicht zum ersten Mal – wieder Alkohol in größeren Mengen getrunken, wir fanden eine fast leere Flasche Weinbrand unter dem Schreibtisch. Ich habe der Polizei trotzdem eine Obduktion nahegelegt und dies auch auf dem Totenschein vermerkt. Die Gerichtsmedizin wird gleich eintreffen und die Leiche von Herrn Denter abholen.“
„Wo befindet sich Frau Denter?“ Wöhrmann zeigte eine Spur von Anteilnahme.
„Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, sie hat sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Die Polizei hat den Sohn informiert, er wird noch im Laufe des Mittags hier erwartet.“
Gisbert Wöhrmann trat an den Schreibtisch und nahm die Blätter in die Hand. Niemand hinderte ihn daran. Offensichtlich schien es sich um die vorbereitete Beerdigungspredigt für Schulze-Althoff zu handeln. Er las die ersten Sätze:
„Jesus, unser geistlicher und weltlicher Befreier, der den Tod überwunden hat, verpflichtet uns zur Wahrhaftigkeit: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein, heißt es in der Bergpredigt. Darum sollen am Sarg dieses Verstorbenen wahre und klare Worte gesprochen werden. Die Zeit der Lügen, der Vertuschungen, der Beschwichtigungen ist zu Ende. Wir Sterblichen, von der Überzeugung geeint, dass das Reich Gottes nicht nur im Himmel, sondern auch hier auf Erden existiert bzw. errichtet werden muss …“
Wöhrmann hatte genug gelesen. Er ließ sich zur Trauerhalle zurückfahren und organisierte den Fortgang der Beerdigung. Bergassessor Schulze-Althoff wurde ohne den Segen der Kirche bestattet. Sein langjähriger Widersacher Rolf Denter, der „rote Pastor“, hatte ihm den letzten Dienst verweigert.
Polizeiobermeister Wolf Schubert, einer der zwei Streifenpolizisten, die auf den eingegangenen Notruf hin zum Pfarrhaus geeilt waren, hatte Gisbert Wöhrmanns Gespräch mit dem Arzt verfolgt und es samt seiner persönlichen Eindrücke später ausführlich Peter Wilken geschildert.
Vikar Karl Friedrich Denter hatte den Abtransport der Leiche seines Vaters nicht mehr mitbekommen. Unmittelbar nachdem ihn die Todesnachricht gegen 11:45 Uhr im Predigerseminar in Soest erreicht hatte, war er über die stark befahrene Bundesstraße 1 die 60 KM nach Dortmund gerast, die zahlreichen Geschwindigkeitsbeschränkungen bewusst außer Acht lassend. Doch im Pfarrhaus in Oberbecker traf er nur noch auf die beiden Polizisten, die ihn über das Wichtigste informierten, bevor sie ihren Streifendienst fortsetzten.
Mit Peter Wilken hatte er am nächsten Tag ein langes Gespräch geführt, in dem es zunächst um die Grabstätte und die Gestaltung der Trauerfeier gegangen war. In dessen Verlauf erzählte er dem Friedhofsgärtner und Kirchenvorstandsmitglied, der für die Verwaltung des Friedhofs zuständig war, aber auch von den unterschiedlichen, gar widersprüchlichen Gedanken, welche die Todesnachricht in ihm ausgelöst hatte. Und danach erzählte er detailliert über das, was ihm später zu Hause im Pfarrhaus durch den Kopf gegangen war. Wilkens Aufzeichnungen, die erst einige Wochen später angefertigt worden waren, lasen sich, als ob ein allwissender Erzähler sowohl mit Distanz als auch mit Anteilnahme berichtet. Ich habe deswegen seinen Text, der vom Bemühen um große Authentizität getragen ist, nur behutsam bearbeitet und ihn weitgehend im Original belassen.
Karl-Friedrich hatte seine Mutter angezogen auf dem Ehebett liegend angetroffen. Sie war unendlich traurig und völlig erschöpft gewesen. Erkennbar wollte sie mit ihrem Schmerz allein sein; sein Versuch, ihr einige tröstende Worte zu sagen, ging ins Leere. So drückte er ihr sanft die Hände, hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn und signalisierte ihr, dass er im Wohnzimmer die aktuellen Arbeitspapiere des Vaters sortieren würde. Sie möchte nach ihm rufen, wenn sie ihn bräuchte.
Aus dem Pfarrbüro holte er sich den Terminkalender des Vaters und dessen prall gefüllten Pultordner mit fertigen und unvollendeten Predigtmanuskripten.
Karl Friedrich Denter, Jahrgang 1949, war nicht nur biologisch der Sohn seines Vaters. Auch theologisch und politisch stand er ihm sehr nahe. So war er Mitglied der SPD und der Religiösen Sozialisten geworden und gehörte aus Verbundenheit mit den Bergleuten des Ortes ebenfalls der Gewerkschaft an. Seine Orientierung an der weltlichen Frömmigkeit Dietrich Bonhoeffers („Leben als ob es Gott nicht gibt“) und der Theologie Paul Tillichs („Sein und Sinn“) hatte ihm während des Studiums in Marburg und Tübingen manche Konflikte mit den Ordinarien beschert. Und bald war allen, die ihn kennenlernten, klar, dass seine beiden Vornamen keine Verbeugung vor Groß- oder Urgroßvätern waren, sondern aus den politischen Überzeugungen des Vaters herrührten: nämlich von Karl Marx und Friedrich Engels. Diese Vorbestimmung war von Karl Friedrich voll akzeptiert worden, seit der Obersekunda wuchs dieses Einverständnis mit jedem Jahr, um das er älter wurde. Fortsetzung folgt
Foto: Alte evangelische Kirche, DO-Kirchderne, © KPM
Hinweis:
Die Namen der Personen und die der Dortmunder Ortsteile bzw. Kirchengemeinden wurden geändert. Ansonsten folgt der Bericht den tatsächlichen Vorgängen bzw. den Schilderungen von Zeitzeugen.