Feature „Kirche und Politik“, Teil 7/8

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Karl Friedrich Denter erwachte wie aus einem Alptraum. Es bedurfte einiger Konzentration, um zu realisieren, wo er sich befand. Die Ereignisse dieses Tages, dazu die Lektüre der Texte und das Erinnern hatten ihn müde gemacht, er war ihm Sessel eingeschlafen.


So erzählte er es einige Monate später ausführlich Peter Wilken. Da waren die Entscheidungen, die er sich vorgenommen hatte, längst gefallen, längst umgesetzt. Doch zunächst noch einmal zurück zu jenem 22. April.

Karl Friedrich sah auf die Uhr, es war 19:30 Uhr, draußen dämmerte es. Abrupt richtete er sich auf und suchte seine Mutter. Die saß im Bibliothekszimmer an ihrem Sekretär, ordnete Dokumente und wirkte äußerlich ruhig.

„Ich wollte dich nicht wecken, Karl Friedrich“, rief sie ihm leise entgegen. „Du hast einen schweren Tag hinter dir und höchstwahrscheinlich wird noch einiges auf dich zukommen; denn ich werde deine Unterstützung benötigen. Ich habe Superintendent Heusinger angerufen und ihn informiert. Pfarrer Hahn aus Kirchderne wird die Gottesdienste am nächsten und übernächsten Sonntag übernehmen und auch Rolf beerdigen. Rufe bitte Herrn Heusinger morgen Vormittag an; er wird dich bis zur Trauerfeier beurlauben. Unser Friedhofsgärtner und -verwalter Peter Wilken wird morgen früh kommen wegen der Grabstätte; zusammen mit Herrn Rousseau, dem Bestatter. Es wäre sehr freundlich, wenn Du mir diese Gespräche abnehmen könntest.“

„Ja, sicherlich, Mutter. Aber wie geht es dir?“

„Mir geht es jetzt etwas besser, obwohl ich sehr, sehr niedergeschlagen bin und mir zum Heulen zumute ist. Aber insgeheim habe ich ein solches Ende kommen sehen. Wir alle wussten ja seit dem letzten Herbst von Rolfs Leberzirrhose. Doch wir hatten noch Hoffnung, sogar sehr viel Hoffnung. Und der Arzt hat uns darin bestärkt. Auch bin ich davon ausgegangen, dass dein Vater sein Alkoholproblem etwas in den Griff bekommen hat. Aber höchstwahrscheinlich habe ich mich wieder einmal einer Selbsttäuschung hingegeben – wie so häufig während der letzten zehn Jahre.“

Karl Friedrich nahm den gedanklichen Faden auf.

„Mache dir bitte keine Vorwürfe. Auch ich habe es geahnt und doch immer wieder verdrängt. Und Vater hat es mir während der letzten Monate nicht leicht gemacht, die Sprache auf etwas anderes als auf Theologie und Politik zu bringen. Für Persönliches war kaum noch Platz. Er litt, litt an seinem Leben, an seinem Beruf, an seiner Krankheit, an seiner Kirche, eigentlich an allem. Heute Nachmittag, als ich in seinen Predigttexten und Notizen las, habe ich mich gefragt, was ich aus seinem Schicksal, das sicherlich nicht gottgewollt war, lernen kann, ja, was ich unbedingt daraus lernen muss.“

Ursula Denter sah ihren Sohn fest an.

„Du sprichst aus, was mich schon lange bewegt. Rolfs Tod fordert mich heraus, noch vielmehr, als mich sein Leben herausgefordert hat. Ich bin jetzt 54 Jahre alt, organisch gesund und finanziell halbwegs abgesichert. Ich muss fort aus dieser kleinen Welt, ich ertrage sie nicht mehr. Wohin ich gehen werde, weiß ich noch nicht. Rolf werde ich dabei niemals vergessen. Er war meine große Liebe und ist es noch. Aber jetzt muss ich zu mir selbst finden. Wo kann ich eine Aufgabe übernehmen, die ich voll bejahe? Die Rolle als Pfarrersfrau hat mir viel Überwindung abgefordert, weil ich allzu oft gegen persönliche Einsichten verstoßen musste. Der Pluralismus der Kirche war mir mindestens so widerwärtig wie deinem Vater.“

Karl Friedrich Denter trat neben seine Mutter und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Noch bis heute Vormittag, also, bis mich die Nachricht von Vaters Tod erreichte, habe ich mich darauf gefreut, bald eine Gemeinde übernehmen zu können. Vaters Beispiel hat mich immer angespornt. Ich wollte ihm nacheifern. Zwar etwas diplomatischer sein als er, aber im Kern das vertreten, was auch sein Lebensziel war. Nämlich denen eine Stimme zu geben, die stumm und schwach sind. Damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Doch als ich heute Nachmittag in Vaters Predigttexten las, kamen mir Zweifel. Es mag sein, dass ich auf die Schulte-Althoffs und die Hangebraucks dieser Welt anders reagieren würde. Höchstwahrscheinlich sogar. Aber meine Aussichten, etwas verändern zu können, würden vermutlich ähnlich gering sein. Kurz bevor ich eingeschlafen war, hatte ich einen vagen Entschluss gefasst. Jetzt wird er mir immer klarer: Ich werde kein kirchliches Amt mehr an-streben. Ich will nicht länger Menschen auf kleinstem gemeinsamem Nenner zusammenführen müssen, sondern ich muss polarisieren, möglicherweise zunächst spalten, statt vorschnell zu versöhnen. Um des Reiches Gottes willen. Vielleicht als Lehrer oder als Journalist. Zum Pfarrer aber eigne ich mich nicht. So wie auch Vater nie ein Hirte seiner Gemeinde war. Das ist sein Vermächtnis und ich will dieses Erbe annehmen.“ Fortsetzung folgt


Hinweis:
Die Namen der Personen und die der Dortmunder Ortsteile bzw. Kirchengemeinden wurden geändert. Ansonsten folgt der Bericht den tatsächlichen Vorgängen bzw. den Schilderungen von Zeitzeugen.

 

Foto: Dortmund Hbf,  Mitte der 70er Jahre, © KPM