Die Visionen jüdischer Denkerinnen und Denker für ein vereinigtes, liberales Europa


Katja Behling


Brüssel (Weltexpresso) - Mit vielen anderen Vordenkern setzte sich Albert Einstein schon früh für ein geeintes Europa ein (hier im Bild 1933 in der Londoner Royal Albert Hall) und gegen die drohenden Gefahren aggressiver Nationalstaaten.


Die Koffer und Kisten waren gepackt. Am 4. Juni 1938 schrieb Sigmund Freud an den Schriftsteller Arnold Zweig noch von Wien aus einen kurzen Brief: «Leaving today for 39, Elsworthy Road, London N. W. 3. Affect. Greetings Freud.» Noch am selben Tag emigrierte der 82-jährige über Frankreich nach London. Mit ihm ging das alte Europa. Sigmund Freud (1856–1939) war ein europäischer Intellektueller, da er Grenzen überschritt, in seinem Leben, aber auch in seinem psychoanalytischen Werk, das in einem Szenario zwischen Wien, Paris, Berlin und London, zwischen Ungarn, Italien und der Schweiz, entstand – und das wie kaum eine andere Denkschule im auseinanderbrechenden und dann wieder zusammenwachsenden Europa des 20. Jahrhunderts Fuß fassen konnte. Als hätte der fragile Kontinent auf ein 
solches Symbol der Verbundenheit gewartet



«Das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer ist eine Erfindung der Dichter – nur 
von ihnen erhalten und aufbewahrt während der feindlichsten Zeiten», schrieb Heinrich Mann im Jahre 1927. Zum Glück irrte er sich. Es waren zuerst die Dichter und Denker der Aufklärungsepoche, die die «Idee Europa» beschworen, aber das philosophische Europa der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts träumte ebenso von der friedlichen Einheit des Kontinents. Auch Otto von 
Habsburg-Lothringen (1912–2011), geboren als Kronprinz von Österreich-Ungarn, ältester Sohn Karls I., des letzten Kaisers der Habsburgermonarchie, vertrat auf vielen politischen Ebenen den Gedanken einer Einigung Europas. Er stand in engem Kontakt mit Richard Graf Coudenhove-
Kalergi (1894–1972), dem Gründer der Paneuropa-Bewegung. Nach dessen Tod übernahm Otto von Habsburg das Amt des Präsidenten der Paneuropa-Union, baute sie zu einer Initiative für ein freies, christliches, soziales und einiges Europa aus und machte sie zum Fürsprecher der unterdrückten Völker in Mittel- und Osteuropa. Nach 1945 wurde die Europäische Union Realität. Doch seit dem Brexit-Votum der Briten steht die europäische Idee nicht nur in Großbritannien wieder zur 
Disposition, sondern auch die Frage, wie unterschiedlich die nationalen Identitäten sind, im 
Mittelpunkt.



Versöhnung zwischen Juden und Christen


Viele jüdische Denker fußen ihre Europa-Visionen auf Aufklärung, Verständigung, Dialog und Offenheit. Der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) gilt als Vater der jüdischen Aufklärung und «jüdischer Luther». Er bemühte sich, die Stellung der jüdischen Minderheit in Europa zu reformieren und zu verbessern. Dem Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) gebührt das Verdienst, jüdisches Denken in die europäische Geistesgeschichte eingebracht und dort verankert zu haben. Aufgewachsen als assimilierter Jude, stellte er den interreligiösen Dialog auf ein festes Fun­dament und inspirierte das christlich-jüdische Gespräch in Europa. Leo Baeck (1873–1956) wurde um 1905 zum führenden Vertreter des jüdischen Liberalismus. 1912 als Rabbiner an die Synagoge in der Fasanenstrasse in Berlin berufen, warb er während der Weimarer Republik für die inter­religiöse und kulturelle Verständigung zwischen Juden und Christen. Ab 1933 reiste er häufig ins Ausland, um auf die Lage der Juden in Deutschland aufmerksam zu machen – die Chance, selbst zu emigrieren, schlug er aus. Als der Religionsphilosoph Martin Buber 1938 Deutschland verliess, war Leo Baeck der letzte hohe Repräsentant der Juden im Land. Der Rabbiner überlebte das Lager Theresienstadt und verbrachte seine letzten Jahre ab 1945 in London. Ab 1948 bis zu seinem Tod bemühte Baeck sich um die Versöhnung zwischen Juden und Christen in Deutschland und Europa.

In der europäischen Frage spiegelt sich die Frage nach dem ethnisch, religiös, philosophisch, kulturell, politisch Anderen. Viele europäische Vordenker des 20. Jahrhunderts spiegeln diese Frage auch in ihren Biografien. Sie waren mit dem «Anderssein» in Europa selbst konfrontiert und stellten «das Andere» auch ins Zentrum ihres sozialtheoretischen Denkens. So auch die Philo­sophin und katholische Theologin Edith Stein (1891–1942), eine 1922 konvertierte Jüdin, die mit 
51 Jahren in den Gaskammern von Auschwitz-
Birkenau umgebracht wurde. Stein, in Breslau geboren, wurde in Freiburg die erste Assistentin des berühmten Philosophen Edmund Husserl, der ebenfalls zum Christentum konvertiert war und seinen Professorentitel 1936 seiner jüdischen Abstammung wegen verlor. Stein, die als Ordensfrau den Namen Teresia Benedicta a Cruce annahm, arbeitete als Lehrerin und Dozentin und förderte den Dialog zwischen Juden und Christen auf vielfache Weise. Sie brachte «Versöhnung zwischen den Nationen», sagte der polnische Philosoph Jerzy Machnacz über sie und ihre Bedeutung für Europa und dessen Einheit. Papst Johannes Paul  II. erklärte die 1987 seliggesprochene Edith Stein zu einer 
Patronin Europas, die Menschen einlud, sich über ethnische, kulturelle und religiöse Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen.



Plädoyer für liberale Prinzipien


Auch der Gelehrte Karl R. Popper (1902–1994) prägte das Nachkriegseuropa zutiefst. Der Wiener, der 1937 als Jude nach Neuseeland emigriert war, kritisierte in seinem epochemachenden Werk 
«The Open Society and Its Enemies» unter dem Eindruck des Einmarsches der Nationalsozialisten in seine Heimat Österreich autoritäre Theorien der politischen Herrschaft. Diese machte er nicht nur bei Hitler, sondern auch bei Karl Marx aus – Popper hingegen plädierte für liberale Prinzipien. In einer Zeit, in der Europa in den Würgegriff des Faschismus und des Marxismus geraten war, griff er beide Ideologien an, warnte vor dem Totalitären und setzte auf die Idee der offenen Gesellschaft, die sich evolutionär, nicht revolutionär verändere. Von 1946 bis 1969 lehrte Popper an der London School of Economics, die sich unter seiner Leitung zu einem Zentrum der Wissenschaftstheorie von Weltrang entwickelte. 1964 wurde Popper, der die Philosophie des Kritischen Rationalismus begründete, von Queen Eli­zabeth II. geadelt. Sir Karl R. Poppers aus dem Nachlaß herausgegebenes Buch «Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens» handelt von den frühgriechischen Philosophen vor und um Meisterdenker Parmenides: Popper belegte darin abermals seine berühmte These, daß Geschichte immer die Geschichte von Problemsituationen sei, und zeigte, wie die Vordenker der europäischen Aufklärung Probleme stets unter der Maxime der 
Rationalität gelöst haben. Fortsetzung folgt

Foto: (c) tachles

 

Info: Aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 1. Juli