Wie lautet das vollständige Manifest der türkischen Putschisten?
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Die Veröffentlichung der beiden Fotos aus unterschiedlichen historischen Epochen zu den Vorgängen in der Türkei und im deutsch besetzten Litauen im gestrigen Weltexpresso verlangt ein Nachwort. Der Mainstream wird nämlich sagen, sie hätten nichts miteinander zu tun.
Die Entfesselung des antisemitischen Mobs durch die deutschen Besatzer während des zweiten Weltkrieg sei etwas ganz anderes, als die spontane Empörung der Anhänger des gewählten Präsidenten eines Mitgliedslandes der Nato. In der Tat: In dem einen Fall geht es um die Vernichtung des jüdischen Volkes, in dem anderen um Übergriffe einzelner Personen oder ganzer Gruppen als Reaktion auf einen Putsch; sie zielten vermutlich nicht darauf ab, die Angegriffenen physisch zu vernichten. Allein aber dass die Momentaufnahme aus der Türkei Erinnerungen wachruft an Geschehnisse während der Naziherrschaft, gibt zu denken und lässt etwas ahnen von dem Abgrund, der uns da vom Bosporus her angähnt. Die physische Vernichtung politischer Gegner durch die Einführung der Todesstrafe in der Türkei liegt im Bereich des Möglichen.
Die Lynchversuche von Samstagnacht seien bedrohliche Vorzeichen, schreibt der türkische Journalist Yavuz Baydar im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 19. Juli in einem Artikel mit der Überschrift "Fürchtet Euch", der eigentlich auf die erste Seite gehört hätte.. Erstmals erfahren wir - wenn auch nur andeutungsweise - etwas von den Zielen der Militärs, die den demokratisch maskierten Alleinherrscher Erdogan absetzen wollten. Wir erfahren von einem langen Manifest, das die Nachrichtensprecherin des staatlichen Rundfunks unter Zwang habe verlesen müssen. Darin hätten die Putschisten den "Kampf gegen die Korruption und eine Rückkehr zu Demokratie" versprochen. Ein verheißungsvolles Versprechen. Warum erfährt die Öffentlichkeit nicht den vollständigen Wortlaut? Das wäre sehr wichtig. Dann wüssten wir mehr über die Motive der rebellierenden Offiziere und über die auslösenden Momente für den offensichtlich schlecht geplanten Putschversuch, den professionelle Umstürzlern vermutlich ganz anders in Szene gesetzt hätten.
Wenn man das Manifest ernst nehme, heißt es in dem Artikel des türkischen Journalisten Baydar weiter, dann spreche vieles dafür, dass es sich sei bei den putschenden Offizieren um einen "zusammengewürfelten Haufen aus sehr unterschiedlichen Strömungen" handle. Es sei bekannt, dass die Syrienkrise und der Krieg gegen die kurdische PKK die Armee tief gespalten habe. Die Aufständischen unterteilten sich in drei Hauptgruppen: Neben den Gülen-Anhängern gebe es sehr viele Kemalisten und schließlich auch Opportunisten. Schon lange vor dem Putschversuch sei jede vernünftige öffentliche Debatte durch staatliche Angriffe auf Zeitungen und sonstige Medien zum Erliegen gekommen. Die Intellektuellen würden Woche für Woche neu schikaniert. Viele von ihnen riefen jetzt zu Versöhnung auf und zu einer neuen Demokratisierungswelle. "Allerdings“, so heißt es am Schluss, „bleibt die Frage, ob die aktuelle Situation nicht eher zu einer eisernen Herrschaft führt. Alle Sorgen und Bedenken sind in dieser Hinsicht leider völlig berechtigt."
Hoffentlich machen die politisch Verantwortlichen im Westen die angedrohte Einführung der Todesstrafe nicht zum alleinigen Kriterium und erteilen Erdogan im Übrigen Absolution. Auch ohne Todesstrafe passt sein Regime nicht in die Wertegemeinschaft, die wir uns in vielerlei Hinsicht jeden Tag noch immer viel kosten lassen. So unter anderem die Stationierung deutscher Militärflugzeuge auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, die dort, wie ein Sprecher des Verteidigungsministerium in Berlin zu verstehen gab, trotz des Putschversuchs Dienst nach Vorschrift machen.
Im Übrigen blieb es nicht bei den vom türkischen Journalisten Yavuz Baydar forumlierten Lynchversuchen. Es wurden Menschen auf offener Straße von Erdogananhängern gemordet. Auch die Verfolgung, bzw. Nichtverfolgung solcher Morde wird ein Indiz für eine rechtsstaatliche Türkei sein. Aber bisher wird erklärt, daß die Strafverfolgung nicht stattfinden wird.