Umfragen und Koalitionsspekulationen zu Beginn des neuen Jahres 5777

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Vor, während und nach Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahr, gehören in Israel Umfragen und Interviews zu allen möglichen und unmöglichen Themen mehr oder weniger zum guten Ton. So auch dieses Jahr. Aus dem Wust von Angeboten beschränken wir uns dieses Mal auf eine Umfrage, die das Institut Project Hamidgam für die News-Website Walla angefertigt hat.

Im Zentrum dieser Umfrage dürfte wohl die Erkenntnis stehen, dass mit 64 Prozent fast zwei Drittel der befragten Israeli (jüdische wie nicht jüdische) die Meinung vertraten, dass es nie zu einem Frieden zwischen Palästinensern und Israel kommen werde. 24 Prozent dagegen glauben, dass ein Abkommen möglich sei, doch dass zu dessen Verwirklichung über fünf Jahre verstreichen würden. Nur gerade vier Prozent der Befragten vertraten die Ansicht, ein Friedensabkommen sei innert fünf Jahren realisierbar. Acht Prozent der Bevölkerung hatten laut der Umfrage keine feste Meinung. Ein Schwachpunkt der Umfrage ist sicher die Tatsache, dass Walla sich über den Zeitpunkt der Durchführung der Erhebung ausschwieg. Der Friedensprozess zwischen Israeli und Palästinensern befindet sich bekanntlich in tiefster Stagnation, seit im April 2014 eine von den USA angeführte Initiative zusammengebrochen ist.



Das Leben ist gut

Trotz der offensichtlichen Friedensfrustration (oder gerade wegen ihr), die in den Umfrageresultaten zum Ausdruck gelangt, meinten 56 Prozent der Interviewten, das Leben in Israel sei gut, während 40 Prozent sich noch gemässigt befriedigt äusserten. Dessen ungeachtet interessierte sich fast ein Viertel der jüdischen Israeli in den letzten fünf Jahren dafür, auszuwandern. Von den Problemen des Landes machten 36 Prozent der Befragten die Lebenshaltungskosten am meisten zu schaffen. An zweiter Stelle folgte die Sicherheit mit 24 Prozent, gefolgt von der grassierenden öffentlichen Korruption, die 17 Prozent der Israeli als das drängendste Problem angaben. Die israelische Öffentlichkeit aber interessiert sich nur bedingt für solche statistischen Erhebungen. Sie kümmert sich mehr um Konkretes. Nun, auch das lieferten die Medien und Spekulanten vor und während der hohen Feiertage.

 

Neues aus der Gerüchteküche

Im Vordergrund stehen hier gewiss die wieder entflammten Gerüchte über die Bemühungen zwischen Netanyahus Likud-Partei und der (noch?) in der Opposition sitzenden Zionistischen Union (Isaac Herzog) um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Laut einem Bericht, den TV-Kanal 10 am Dienstag ausstrahlte, sollen die Kontakte bereits so weit gediehen sein, dass die Union acht Portefeuilles erhalten soll, darunter auch das begehrte, seit Jahren verwaiste Aussenministerium. Auch sollen Minister der Union die Kontakte mit den Palästinensern führen dürfen. «Haaretz» goss Öl ins Feuer der Spekulationen, als sein Korrespondent unter Berufung auf Quellen in beiden Parteien die Richtigkeit des TV-Berichts bestätigte. Daran konnten auch die vehementen Dementis aus Herzogs Umgebung – man sprach von «grundlosen» Berichten – wenig ändern. Im Gegenteil: Je entschiedener in Israel ein Dementi in politischen Angelegenheiten ist, umso überzeugender ist nach Verhandlungen dann das Dementi des Dementis. Nicht auszuschliessen ist allerdings auch die Möglichkeit, dass es sich bei den Spekulationen um ein von Netanyahus Leuten bewusst in Bewegung gesetztes Karusell handelt, um das Interesse von Volk und Medien an den sich offensichtlich immer enger um den Hals des Premiers legende Schlinge in Sachen eines sich entwickelnden neuen Betrugs- und Korruptionsskandals abzulenken.

Stöbern wir weiter durch die Gerüchteküche der Medien, vor allem von «Haaretz». So soll Herzog sich in den letzten Tagen mit Abgeordneten und Offiziellen seiner Partei getroffen haben, um sie von der Richtigkeit eines Beitritts zur Koalition zu überzeugen. Dabei soll der Oppositionschef den Abgeordneten gesagt haben, es bestünde gegenwärtig eine «präzedenzlose Gelegenheit», einen diplomatischen Prozess im Nahen Osten anzuführen, der nicht verpasst werden dürfe. Diese Argumentation wäre gut und aussichtsreich, wäre sie in Israel nicht schon so oft gehört worden, ohne dass Konkretes herausgeschaut hätte. Da aber bekanntlich die Hoffnung auch im Nahen Osten zuletzt stirbt, fahren wir weiter mit der Schilderung des Spekulationskarussels, ohne auch nur für einen Moment ausser Acht zu lassen, dass es sich um nicht weniger, aber auch nicht um mehr als ein solches handelt.



Berge versezten

Eine Kröte, die für Netanyahu wohl nur schwer zu schlucken ist, wäre die «unabdingbare» Forderung Herzogs, von der streitbaren Miri Regev das Kulturministerium zu übernehmen. Als «Trostpflaster» soll Regev in der Likud-Hierarchie aufsteigen, ein anderes Portefeuille bekommen und Mitglied des Sicherheitskabinetts werden. Ob die stramm linientreue Dame an neuen Orten ihren ideologischen Hexentanz uneingeschränkt wird weiter tanzen können, ist zwar fraglich, doch sobald Netanyahu erst einmal über seinen Schatten gesprungen ist, kann er Berge versetzen. Das hat er schon mit der brutalen Ersetzung Moshe Ya’alons durch Avigdor Lieberman bewiesen.

Wozu das Ganze, ist man versucht, sich  zu fragen. Auch hier scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: Laut informierten Likud-Kreisen benötigt Netanyahu die Zionistische Union und einen diplomatischen Prozess, um palästinensischen Versuchen den Wind aus den Segeln zu nehmen, nach den US-Wahlen im November, aber noch vor Obamas Verlassen des Weissen Hauses im Januar 2017 eine antiisraelische Resolution in der Uno durchzusetzen. Hinzu kommt, dass Netan-yahu offensichtlich hofft, mit Herzog in der Regierung eine internationale Friedenskonferenz bestehen zu können, ohne dass seine rechtsgerichteten Partner die Koalition verlassen und vorgezogene Wahlen auslösen könnten. Im Hintergrund lauert zudem auch das Thema Amona. Dieser illegale Aussenposten muss laut Gerichtsbeschluss geschliffen werden. Mit Herzog im Rücken könnte Netan-yahu wahrscheinlich eine koalitionsinterne Rebellion rechtsnationaler «Falken» leichter abblocken.



Stühlerücken

Was geschieht mit Herzog selber im Falle eines Schulterschlusses mit Netanyahu? Das Aussenministerium wird er wohl Tzippi Livni überlassen müssen als Preis dafür, dass sie ihre konsequente Opposition gegen ein Zusammengehen mit dem Likud aufgibt. «Haaretz» zufolge verblieben Herzog dann noch die Jobs des stellvertretenden Premierministers, des Chefunterhändlers in den Verhandlungen mit den Palästinensern sowie das Ministerium für regionale Entwicklung. Und wenn wir schon bei der präsumptiven Ämterverteilung sind: Den Spekulationen zufolge wird die Zionistische Union neben dem Aussenministerium noch die Ministerien für Kultur und Sport, Landwirtschaft und entweder das Wirtschafts- oder das Wohnbauministerium bekommen. Vier weitere Portefeuilles sind noch unbestimmt. Eines ist bereits jetzt sicher: Neben den Gebeten für Gesundheit, Wohlergehen und Frieden begann das neue jüdische Jahr für Israel mit der gleichen Beschäftigung, mit der das alte Jahr ausgeklungen war: Mit Spekulationen, Schlagzeilen und Skandalen. Schana tova!

 

Foto: Im Vordergrund stehen Gerüchte über die Bemühungen zwischen Netanyahus Likud-Partei und der in der Opposition sitzenden Zionistischen Union von Isaac Herzog um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit (c) tachles

Info: Abdruck aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 7. Oktober 2016