60 Jahre Doppelkrise – der niedergeschlagene Ungarnaufstand und das Debakel des Suez-Feldzugs
     
Gisela Blau

Bern (Weltexpresso) - Der knapp 18-jährige Ivan Kertész folgte am 23. Oktober 1956 dem Aufruf des ungarischen Fussballverbandes, dass sich die Junioren-Auswahl des Landes der Studentendemonstration in Budapest anschliessen solle. Als der lange Zug vor dem Rundfunkgebäude angekommen war, sah sich Kertész durch das Geschiebe der Menge plötzlich in der vordersten Reihe.

«Da wurde es mir unheimlich», erinnert er sich. «Ich entfernte mich so rasch und so unauffällig wie möglich von der Kundgebung und ging nach Hause.» Sein Instinkt rettete ihm möglicherweise das Leben: Wenig später wurde aus dem Rundfunkgebäude heraus auf die Menschenmenge geschossen, und es gab zahlreiche Opfer. «Den Rest der Revolution beobachtete ich weitgehend durch unsere Fenster.»

Die Familie Kertész war leidgeprüft. Der Vater Franz war in ein Arbeitslager deportiert worden, die Mutter Elisabeth schaffte es, für sich und den vierjährigen Sohn Ivan falsche Papiere und ein Versteck zu besorgen. Ab 1942 wurden alle jüdischen Firmen enteignet. So wurden die Grossbäckerei der Familie mit 30 Angestellten und die schöne Wohnung beschlagnahmt; Mutter und Sohn mussten in ein enges «Judenhaus» am Donau-Ufer umziehen. Es war der Mutter nicht gelungen, einen der begehrten Schweizer Schutzbriefe zu bekommen. «Zum Glück wurden wir von unseren Helfern abgeholt und aufs Land gebracht, bevor die systematische Ermordung der zusammengepferchten Bewohner des Judenhauses begann», sagt Kertész. Nun hiess der kleine Bub plötzlich István Nagy und musste sich diesen Namen einprägen.

Nach dem Krieg kehrte der Vater aus dem Arbeitslager zu seiner Familie zurück. Die Bäckerei und die Wohnung bekamen sie wieder, der Vater wurde Sekretär des Bäckermeisterverbandes, die Mutter arbeitete in einem Süsswarengeschäft, und Ivan besuchte die ersten drei Jahre eine jüdische Schule. Schon als kleiner Junge hatte er Fussball gespielt, nun gewann er mit seiner Schule die ungarische Mittelschul-Meisterschaft. Bald wurde er in die Junioren-Auswahl aufgenommen. «Ich spielte immer im Sturm», lacht er.



Flucht mit Schlepper

Die Wohnung der Familie lag nur etwa 200 Meter von der russischen Botschaft entfernt, die besonders nach dem Oktoberaufstand von 1956 durch Panzer abgesichert war. Ein Grund mehr, nicht auf die Strasse zu gehen. Der russische Botschafter war niemand anderer als Juri Andropov, der spätere Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB und Ministerpräsident.

Am 4. November war der Traum vom unabhängigen, neutralen Ungarn vorbei. Zusätzliche Sowjettruppen marschierten in Ungarn ein und zerschlugen den verzweifelten Kampf der Aufständischen. Die neu gebildete Reformregierung von Imre Nagy wurde abgesetzt, doch die Kämpfe gingen weiter. Gegen Ende November wurden Nagy und der aufständische General und Verteidigungsminister Pál Maléter verhaftet; sie wurden später entgegen allen Zusicherungen mit weiteren Anführern des Ungarnaufstandes von 1956 nach einem Schauprozess hingerichtet.

Im Winter 1956 beschloss die Familie Kertész, dass der Sohn mit einem Schlepper flüchten solle. Ivan Kertész nahm, um nicht aufzufallen, nur einen kleinen Sportsack mit, in dem sich ein paar Kleider befanden. Die Gruppe fuhr mit dem Zug bis an die österreichische Grenze; Österreich war seit dem Staatsvertrag von 1955 nicht mehr von der Sowjetunion besetzt. In der folgenden Nacht überquerten die Flüchtlinge mit ihrem Schlepper zu Fuss die Grenze und fuhren mit dem Zug weiter nach Wien.

In der Gruppe befand sich ein vermögender alter jüdischer Mann, der im Mantel Geld und Wertsachen eingenäht hatte. «Ich schleppte den schweren Mantel auf dem Fussmarsch über die Grenze», erinnert sich Kertész. Der Mann sagte ihm dafür, in welchem kleinen Hotel er in Wien wohnen werde. «Das war mein Glück», sagt Kertész. «Ich stand am Bahnhof in Wien, ohne Geld, verstand kein Wort und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte.» Er begab sich in das bewusste Hotel und durfte dank dem alten Herrn dort wohnen. Die jüdische Hilfsorganisation Hias organisierte seine Weiterreise.

70 000 von 200 000 Ungarnflüchtlingen blieben in Österreich, die anderen konnten sich dank der beispiellosen Hilfsbereitschaft des Westens ein Land aussuchen. Mutter Kertész hatte entfernte Verwandte in Zürich, die den jungen Ivan gut aufnahmen, als er am 13. Januar 1957 als anerkannter Flüchtling in die Schweiz einreisen konnte. Sie besorgten ihm schon nach einigen Tagen ein Praktikum in einem Radiogeschäft am Zürcher Löwenplatz und eine Unterkunft bei einer alten Dame in Kilcherg. Bald meldete er sich auch bei der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich an und wurde ein Mitglied der alten Star-Mannschaft des Fussballclubs Hakoah, der damals stets in der 3. oder 4. Liga spielte. «Nur entstanden dort sehr wenige Freundschaften», bedauert Kertész. Dennoch präsidierte er später den FC Hakoah und förderte auch die Junioren.



Fussballerische Leistungen

Weil er bereits in Budapest am Technikum studiert hatte, bewarb sich Kertész am Technikum Winterthur. Er sprach erst wenig Deutsch, «aber die haben bei der Aufnahmeprüfung beide Augen zugedrückt», erinnert er sich dankbar. «Wegen mir hielten sie die Vorlesungen auf Hochdeutsch ab.» Für 2.20 Franken ass der junge Flüchtling in der Volksküche zu Mittag. Der Zürcher Fussballclub Blue Stars war von den Leistungen des jungen Mannes beeindruckt und stellte ihn als Spieler und Juniorentrainer an. im Sommer 1958 durften auch die Eltern Kertész in die Schweiz kommen. Die tüchtige Mutter hatte die Wohnung gegen ein Ausreisevisum getauscht, und die Schweiz liess die Eltern problemlos einreisen. Mit seinem kleinen Lohn konnte sich der Sohn eine Familienwohnung leisten, und die Eltern suchten Arbeit. Sie gehörten später zu den ersten Pensionären des Alterswohnheims Sikna, «das konnte ich mir damals bereits leisten», so Ivan Kertész. Er hatte Karriere bei General Electric gemacht.

1969 heirateten Ivan Kertész und Shella Schwartz und versuchten, sich selbständig zu machen. Der Verkauf von Kabeln lag nahe, denn dank seiner Berufstätigkeit kannte Ivan Kertész die Lieferanten. 1975, da war er längst eingebürgert, reiste er erstmals nach Budapest, um im Auftrag der Schweizer Kabelhersteller Geschäftsmöglichkeiten im Osten zu prüfen. In Ungarn klappte es nicht, aber dafür in Rumänien.

Der Fleiss und die Energie der beiden führten zum Erfolg. Längst ist ihre Kabelfirma etabliert und floriert dank der Innovationskraft von Ivan Kertész. Die Geschäftsführung übernahm vor einigen Jahren Daniel Kertész, der ältere der beiden Söhne. Jetzt, 60 Jahre nach dem Ungarnaufstand, kamen bei Ivan Kertész viele Erinnerungen zurück, und er weiss um sein Glück, dass er in der Schweiz eine Heimat gefunden hat.



Anteilnahme in der Schweiz

Auch in der Schweiz waren die Anteilnahme am Freiheitskampf der Ungarn und die Hilfsbereitschaft enorm. Schulklassen standen Schlange, um Blut zu spenden, sie strickten Quadrate, die zu Wolldecken zusammengesetzt wurden. Es gab Schweigemärsche, aber nur wenige politische Verurteilungen. Wenigstens öffnete die Schweiz, die noch während des erst einige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkriegs die Grenzen hermetisch abgeschlossen hatte, zumindest für jüdische Flüchtlinge, bereitwillig ihre Grenzen und gewährte rückhaltlose Aufnahme von 11 000 Ungarnflüchtlingen. Private sammelten einige Millionen Franken für die Ungarnhilfe, und sie schickten zwei Millionen Pakete mit Lebensmitteln und Medikamenten. Das kam auch Janos Morvay zugute. Er war im Oktober 1956 acht Jahre alt und sah den Ungarnaufstand vor dem Haus. Eine Wohnung nach der anderen leerte sich, als die Bewohner flüchteten. Eigentlich hatten die Eltern bereits die Koffer gepackt, doch dann erkrankte der dreijährige Bruder, und die Familie beschloss zu bleiben.

In der Schule bekam Janos Morvay wie die anderen Kinder Milchpulver aus der Schweiz und eine Tafel Schokolade. Obwohl die Spender angewiesen waren, den Lebensmitteln keine Botschaften beizulegen, hatte eine Familie aus Baselland das damals übliche Zwischenpapier voll geschrieben. Die Eltern konnten Deutsch und übersetzten Janos die Nachricht. Als er 1970 als Architekturstudent alleine Ungarn verlassen konnte, wandte er sich an diese Familie, «sie haben mir sehr geholfen, mich zu integrieren», so Morvay. Sein Bruder, der später einreiste, lebt noch immer in Basel. Auch der verwitwete Vater konnte nachkommen. Morvay fand Arbeit als Hochbauzeichner, gründete eine Familie und blieb in der Schweiz, statt wie geplant nach Israel weiterzuwandern. 1984 wurde er eingebürgert und fühlt sich hier wohl.

 

Foto: Demonstration in Bern am 6. November 1956 gegen die sowjetische Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes (c) tachles

Info:
Die Forschungsgruppe der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (Dodis) hat auf Ihrer Website ein E-Dossier mit historischen Quellen zur Schweiz während der Doppelkrise Suez/Ungarn veröffentlicht: http://dodis.ch/dds/12

Abdruck aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 21. Oktober 2016