Die SPD findet nicht mehr zu sich selbst
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sie scheint zu einer Partei ohne (positive) Eigenschaften geworden zu sein, die SPD.
Und ihr Vorsitzender, Sigmar Gabriel, wirkt verwirrt. Beispielsweise bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Die evangelische Theologin Margot Käßmann wurde zumindest zu früh genannt und völlig ohne Abstimmung mit den Parteien, auf deren Zustimmung die Sozialdemokraten angewiesen sind. Danach wurde Walter Steinmeier ins Gespräch gebracht. Der Außenminister scheint in der Bevölkerung beliebt zu sein, wie das ZDF-Politbarometer seit geraumer Zeit berichtet. Aber seine Sympathiewerte lassen sich auf die Partei offensichtlich nicht übertragen. Und zumindest bei den Linken hat der Mitverfasser der Agenda 2010 keine Freunde, sodass seine Kandidatur ziemlich aussichtslos erscheint.
Sigmar Gabriel hätte auch das bedenken müssen. Und seine Fehlentscheidungen verstärken den Eindruck, dass sich Deutschlands älteste Partei jenseits von Raum und Zeit bewegt. Dass sie die alten, eigentlich ihre ureigensten, Fragen an die Gesellschaft, die sie nie vollständig beantworten wollte, nicht mehr als relevant erkennt und sich dadurch überflüssig macht.
Zugegeben: Auch ich war einmal Mitglied der SPD, von Januar 1969 bis Mai 1980. Bei meinem Eintritt hoffte ich darauf, bei den linken Jungsozialisten etwas bewegen zu können; vor allem einen Bewusstseinswandel. Denn allzu viele Genossinnen und Genossen unterlagem dem Irrtum, dass sich mit dem technisch bedingten Wandel der Arbeit auch der Gegensatz von Arbeit und Kapital erledigt hätte oder sich bald erledigen würde. Nicht zuletzt die Große Koalition unter Kiesinger & Brandt hatte (vor allem bei Gewerkschaften wie der IG Bergbau) Illusionen über das Ende der Klassenkämpfe hervorgerufen.
Aus dem gelernten Arbeiter (der beispielsweise im Ruhrgebiet einen Handwerksberuf im Bergbau und in der Stahlindustrie ausübte) wurde zwar der Facharbeiter (was bei den Gelernten lediglich eine Namenskosmetik war). Und die Zahl derer, die vom Arbeiter- ins Angestelltenverhältnis wechseln konnten, nahm zu. Die traditionellen Angestellten, die vor allem in der Verwaltung, in der Technik und in den Verkaufsabteilungen der Firmen tätig waren (als Handels- und Industriekaufleute, Buchhalter oder Ingenieure), begegneten misstrauisch dieser vermeintlichen Gleichmacherei. Doch wer Einblicke in die Entscheidungsprozesse der Unternehmen hatte, ließ sich selten irre machen, der erkannte, dass sich Arbeit und Kapital nach wie vor als Interessengegensätze gegenüber standen. Die SPD im Ruhrgebiet, meiner Heimat, hat damals versucht, den Faktor Harmonie in die Arbeits- und Entscheidungsprozesse einzubringen, also das Soziale in der Marktwirtschaft zu betonen. Aber sie war immerhin klug genug, den Klassenantagonismus nicht grundsätzlich zu leugnen. In NRW führte diese Politik 1966 zu einer sozialliberalen Koalition (unter Heinz Kühn) und 1969 auch im Bund (Brandt/Scheel).
Nach meiner Erinnerung hat sich der größte Teil der Arbeiter und Angestellten bereits in den 50er Jahren nicht dem Proletariat zugerechnet. Allein die Bedeutung des Begriffs (wirtschaftlich abhängige, besitzlose Klasse) war vielen nicht bekannt; allzu häufig wurde darunter der fachlich unklassifizierte Arbeiter verstanden. Auch die Bildungsarbeit von SPD und einigen Gewerkschaften (vor allem der IG Metall) änderte an diesem Missverständnis nichts. Nicht selten hörte ich von arrivierten Genossen und (den wenigen) Genossinnen, dass sich Karl Marx’ Theorie überholt hätte; denn den Patriarchen als absolutistischen Unternehmer gäbe es nicht mehr. Wenn ich dann darauf hinwies, dass Marx und Engels diesen Typ des Fabrikanten als Auslaufmodell betrachtet hatten und längst von der Kapitalgesellschaft als der Norm bei größeren Betrieben ausgegangen waren, erntete ich Widerspruch. Ich habe dann auf Marx‘ „Fragebogen für Arbeiter“ aus dem Jahr 1880 verwiesen. Darin wurden die Betriebsformen und die Arbeitsbedingungen im Detail abgefragt (Quelle: Marx/Engels, Werke, Band 19, Seiten 230 – 237), was sich in Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“ niederschlug. Doch mit fundiertem Wissen schuf man sich in der SPD Feinde.
Mit dem mangelhaften Bewusstsein, das auf fehlendes Wissen zurückzuführen war, ging auch die Solidarität und der Internationalismus der Sozialisten verloren. Auf die Diskussion um den „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ in der Mitte der 70er Jahre reagierte die SPD mit Parteiausschlüssen. Ein prominentes Opfer war der Juso-Vorsitzende Klaus Uwe Benneter, der später von Gerhard Schröder wieder zurückgeholt wurde und der von 2004 bis 2005 SPD-Generalsekretär war. Weitere deutliche Anzeichen einer Orientierung nach rechts gab es in der letzten Phase von Helmut Schmidts Kanzlerschaft; damals trat ich aus der SPD aus.
Mit Schröders „Agenda 2010“ erreichte die Entsolidarisierung ihren Höhepunkt. Die Klasse der Arbeiter wurde nach dem Muster undemokratischer Gesellschaften aufgespalten. Der in der Einkommenshierarchie weiter unten Stehende kann nun auf noch Elendere herabsehen und gönnt diesen Menschen von Fall zu Fall noch nicht einmal das tägliche Brot (Hartz IV-Leistungen). Die Konkurrenz um Arbeitsplätze und Festanstellungen zerstört das einst beschworene Zusammengehörigkeitsgefühl. Mit Trostpflästerchen wie dem zu niedrig angesetzten Mindestlohn soll derzeit über die wirkliche Lage hinweggetäuscht werden. Und diese Lage ist erschreckend.
Der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands weist nach, dass die Schere zwischen arm und reich permanent auseinandergeht. Diese Tendenz ist keine vernachlässigbare Nebenwirkung einer ansonsten erfolgreichen Sozialpolitik. Sie ersetzt die über ein Jahrhundert, bis in die 1960er Jahre hinein, erkämpfte soziale Sicherheit durch eine gigantische Umverteilung von unten nach oben.
Die Quittung dafür erhält die SPD in mehrfacher Weise. Die Linke kostet ihr im Durchschnitt zehn Prozent ihres traditionellen Anteils an den Wählerstimmen. Die antisoziale AfD, eine letzte aber unberechtigte Hoffnung der Hoffnungslosen, wird zu weiteren nennenswerten Stimmenverlusten führen. Anzeichen für eine Kursänderung sehe ich nicht. Denn Sigmar Gabriel ist ein Hasardeur, während der von manchen hochgelobte Martin Schulz den Eindruck erweckt, als hätte er den politischen Opportunismus erfunden (siehe die aktuelle CETA-Debatte).
Foto: (c) Der Spiegel